Erstellt am: 14. 9. 2011 - 07:30 Uhr
Smells like Vergangenheit
Dieser Text wurde schon einmal hier veröffentlicht, hat aber an Aktualität nichts verloren.
Eigentlich ist mir gar nicht danach, dieses Album wieder hervorzukramen. Ich gestehe prinzipiell, alte Platten, an denen so richtig persönliche Geschichte klebt, eher zu meiden, erst recht, wenn es sich um derartig mythenschwangere, Track für Track zu Tode gehörte Meilensteine der Musikgeschichte handelt. Aber der Anlass schreit danach. Zwanzig Jahre "Nevermind". Na gut, das muss jetzt sein.
Nirvana
Also zuerst mal den CD-Stapel vom Plattenspieler runterräumen und ihn entstauben. Bevor die Nadel auf den ersten Song, diesen ersten Song, runtersinkt, nochmal ein Stopp. Es geht einfach nicht. Ein anderes Stück Vinyl wird nach längerem Suchen aus dem Regal gefischt. "Gods Balls" von Tad, Sub Pop Records 1989. Fette Drums, ebensolche Gitarren, ein nicht gerade unterernährter Sänger, der brüllt: "This is what you need!" Und: "Behemoth! Motherfucker!" Klingt gar nicht so veraltet wie vermutet.
Dieser wohlbeleibte Tad Toyle mit dem Schlachterimage lockte mich im Herbst 1989 ins Wiener U4. Und dazu noch so eine Vorband aus Seattle, deren Debüt ich dann doch nicht gekauft hatte: Nirvana.
I Was A Backstage Grunge Groupie
Lichtjahre vom Lohn-Journalismus entfernt und an der Stufe zum zukünftigen Fanzine-Schreiberling - für tolle, selbstkopierte Wiener Gazetten wie "Der Gürtel" - zwang mich damals eine magische Kraft, einfach bei jedem erwähnenswerten Konzert backstage abzuhängen. Der Band was vom Buffet wegzumampfen oder besser: trinken, zuhören, irgendwelchen Smalltalk reden. Am besten gleich den ganzen, wahnsinnig aufregenden Soundcheck mitansehen. Irre, wie so ein Schlagzeuger ewig seine Snare-Drum stimmt.
Natürlich kamen die Bands prinzipiell immer viel zu spät. Ohne zenbuddhistische Geduld lief da nichts. Die Belohnung fürs Warten: ein gähnender J. Mascis von Dinosaur Jr., ein grantiger Steve Albini und ein topfitter Henry Rollins - hautnah. Oder Tad Doyle, der Schlächter-Koloss, der mich freundlich nach der Toilette fragte.
Die Typen, die in seinem Schlepptau direkt vom Mini-Tourbus ins U4 torkelten, redeten gar nichts, sahen einfach nur bettlägrig und ziemlich obdachlos aus. Nirvana, aha. Sicher so eine eingeschlafene Proberaum-Partie.
Deep, Down and Dirty
Exkurs: Ende der Achtziger wurden in Wien und elsewhere endlich die ewigen schwarzen Klamotten und dazugehörigen Post-Punk-Goth-Industrial-EBM-Avant-Tonträger eingemottet, die antrainierten überkühlen Posen abgelegt. No more 80ies please. Plötzlich gab es mehrere Optionen, die allesamt in Opposition zum Feindbild der Stunde, dem übriggebliebenen Waver, standen: Die einen nahmen die Hip Hop und Funk-Route, andere den historischen Pfad Richtung Sixties-Rock, wieder andere feierten hemmungslos, was jahrelang als dreckig, geschmacklos, derb verpönt war. Sag ja zu Trash und Schwermetall.
Mit der Wende zum Schmutz und Schund löste ein massiver Americana-Kult die England- und Australien-Verehrung in subkulturellen Kreisen ab. Amiland, das war plötzlich der mythische Ort, wo alles ach so "Echte" herkam, der authentische Grind und Schweiß. Hallo, Iggy Pop, alte Ikone.
Hallo auch Sonic Youth, Big Black, Hüsker Dü oder die Butthole Surfers. Hardcore, hierzulande lange geflissentlich übersehen, boomte und mischte sich mit Noise, Jazz, Metal, whatever. Klein-Labels wie SST, Homestead, Touch & Go und, ja, Sub Pop veröffentlichten Platten, die Herzen und Köpfe beschäftigten und rockten wie Sau, was damals auch von späteren Techno-Labelchefs goutiert wurde.
Touch me, I'm Sick!
Ab anno 1988 kursierte ein Begriff, der einiges von dem räudigen Feedback-Krach lautmalerisch zusammenfasste: Grunge. Wobei dieser neue Ami-Rock sich schon vom alten Rock-Rock unterschied. Auf eine knappe Gleichung gebracht: Die fortschrittliche Energie des Punk ging eine Liaison mit der Bleischwere des Metal ein. Bisher war diese Verschmelzung an ideologischen Differenzen gescheitert - zu verschieden waren die Welten von Hardcore und New Wave (Studiosi) und Heavy Metal (Working Class) gewesen.
Nirvana
Schließlich hatten die Philosophiestudenten von Soundgarden eine großartige Idee. Warum nicht Metal von seinen Negativa (Brusthaar-Perücken, Deppen-Solis und Pathos-Gesten) entschlacken und das Gute daran (die Riffs) mit Punk-Attitüden verknüpfen? Mit ironischer Distanz verkündete das führende Sub-Pop-Label daraufhin lange verpönte Botschaften: Gimme Wah, Wah, Baby! Gimme Stagediving! Be Heavy as Fuck!
Dahinter steckte der zynische Nihilismus einer Szene, die erstmal an gar nichts mehr glaubte. Wurschtigkeit meets depressive Melancholie plus gegen alles und jeden gerichtete Aggression: "Touch me, I'm Sick!"
Generation Irgendwie
Ausgerechnet im U4, dem einstigen Symbol der weißgekachelten Wiener Wave-Ära, spielten nun Bands vor ausverkauftem Haus, die so was von gründlich sämtliche bekannten Style-Prinzipien der Achtziger ignorierten. Vernachlässigte Mittelklasse-Schmuddelkinder und Trailerpark-Abkömmlinge begaben sich auf den gemeinsamen "Mud Ride" (copyright by Mudhoney), Gruppen, die alle irgendwie aussahen und irgendwie drauf waren. Generation "Irgendwie", das brachte die Haltung und den Look der Grunge-Generation auf den Punkt, lange vor dem späteren X-Brandzeichen.
Anyway, wie Nirvana an diesem besagten Abend wirklich spielten, das verschwand, ehrlich gesagt, hinter einem privaten Alkoholschleier. Ziemlich gut war es, irgendwie. Was ich noch weiß: Kaum jemand sprach danach von Tad und alle von der rohen, leidenschaftlichen Vorband. Punk lebte, aber verpackt in Metal und gespielt von Typen, die abgefuckter und unpunkiger aussahen als mancher WG-Hippie. Diese Schlafmützen galt es weiter zu beobachten.
Smells Like … Police?
Schnitt. September 1991. In einem Wiener Plattenladen, der zum Hauptumschlagplatz des Grungism wurde, kann zu diesem Zeitpunkt keiner mehr das Wort "Grunge" hören. Trotzdem Spannung, als der Verkäufer "Nevermind" auspackt. Sind Nirvana nach Soundgarden doch das nächste große Industrie-Signing und da fragt man sich schon, wie die Herren Slacker (wie es dann hauptamtlich heißen wird) denn jetzt so klingen?
Nirvana
"Wie Police", sagt einer, als der erste Song läuft. "Pop!" murmelt jemand ätzend. "Great", meint Courtney Love zu mir in einem Interview bald darauf, "an amazing album that changes the world." Und: "I like the singer". Sie spielt vor zirka 100 Leuten mit ihrer Band Hole im U4.
"Pop" – dieses damalige Schimpfwort macht auch die Runde, als Cobain & Co zum Albumrelease der Wiener Arena einen Besuch abstatten. Die Fanzine-Schreiberlinge maulen ebenso wie die richtigen Kritiker, schimpfen über das extrem junge Publikum bei einem "ihrer" Gigs, pferchen sich nur wegen der Vorband Urge Overkill ins knallvolle Haus, die mich an diesem Abend kalt lassen, denn Nirvana sind phänomenal. Nicht irgendwie, sondern richtig.
Der historische Druck, überall die Charts zu stürmen und gerade die Geschichte des "Indie" zu ändern, ist der Band merklich too much. Entlädt sich in einer brutalen Noise-Metal-Grunge-Orgie, die aber immer noch Pop ist. Immer noch Sub(-kultur) Pop. Diese Mischung elektrisiert. Der Enthusiasmus in der Halle auch. Und der Song ist ganz groß.
No more Slacker-Schlafmützen
Nochmal Schnitt. März 1994, der unfreundliche Backstage-Bereich in der Laibacher Mehrzweckhalle Tivoli. Die vielen Ordner, das grimmige Bewachungspersonal und die tausenden Menschen draußen vor der Halle sagen viel über die Entwicklung von Sub Pop zu Big Pop Rock. Kurt Cobain gibt angeblich gerade eine Pressekonferenz zu den kriegerischen Auseinandersetzungen in Ex-Jugoslawien. Der Grund für mein Herkommen ist aber der Support-Act: die Melvins, das Urgestein der Rund-um-Seattle-Szene und eine jener Bands, die im großen Major-Aufkauf-Spektakel stets interessant blieben. "Riesen-Aufwand, hmm?", grinst mich Buzz Osbourne an und spielt vor fünftausend so verschroben wie einst vor fünfzig Zusehern. Die Melvins sind Giganten in Laibach.
Mit Nirvana ist das zu diesem Zeitpunkt so eine Sache. Cobain und Konsorten wirken müde, ausgelaugt. Lange unplugged Parts im Sitzen langweilen, diese MTV-Torheit steht ihnen nicht. Erzsympathisch sind sie immer noch, und die besseren Songs als jene pathetisch raunzenden Konkurrenten, die via Edel-Grunge den alten Saftsack Rock-Rock wiederbeleben (ich nenne mal bewusst keine Namen) haben sie auch. Aber der Ballast, als politisch korrekte Insel in der völlig veränderten Musiklandschaft weiter zu bestehen, solidarisch mit dem Riot-Grrl-Bewusstsein gegen verstaubte Rock´n'Roll-Images, heterosexuelle Zwangsdogmen und Rassismen anzutreten, all das nagt an der Band.
20 Jahre Nevermind
Ein Spezialtag zum Jubiläum, mit jeder Menge Interviews, persönlichen Erinnerungen und dem Mitschnitt des Nirvana Konzertes im Wiener U4. Das genaue Programm gibts hier.
- Alle Artikel zum Jubiläum.
No more Slacker-Schlafmützen. Sondern überforderte Botschafter einer Ex-Indie Ära mit zu wenig Schlaf und (einer von ihnen) zu vielen üblen Drogen im Blut. Ich gestehe, ich habe den Gig ziemlich bald vergessen. Bis zum 4. April 1994 jedenfalls.
Zwanzig Jahre "Nevermind". Seltsame Sache. Versteht heute überhaupt noch jemand, wovon ich hier schreibe? Jetzt höre ich mir das Album aber wirklich noch einmal an. Den ersten Song überspringe ich, aber "In Bloom" klingt sehr, sehr gut … Sorry, Tad.