Erstellt am: 1. 9. 2011 - 16:47 Uhr
Ein eigenartiges Angebot
Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz
Nachdem Gulliver über Japan nach Europa zurückgekehrt ist, bleibt er fünf Monate zu Hause. Gerade Zeit genug, um seine Frau zu schwängern, dann zieht es ihn schon wieder fort. Langsam wird diese unheimliche Jojo-Natur (in Thomas Pynchons Roman „V.“ heißt es „the yo-yo is a state of mind“) von Gulliver wirklich auffällig. In ihr liegt das geheime Leitmotiv des Romans: Die vollkommene Entwöhnung von der Muttermilch der Zivilisation und der menschlichen Gemeinschaft. Und, was noch verstörender ist: die große, mühevoll aufrechterhaltene Illusion einer Ausnahme, die Gulliver bei sich selbst macht bzw. machen wird in diesem vierten und letzten Teil des Buches.
Clemens Setz
Ende 1710 geht das Kauffahrteischiff „Abenteurer“ mit Lemuel Gulliver als Kapitän auf Reise. Bald meutert ein Teil der Mannschaft und Gulliver wird auf einer Insel ausgesetzt. Dort begegnet er einem unheimlichen affenartigen Tier, das er ausführlich beschreibt. „Im Ganzen habe ich auf allen meinen Reisen niemals ein so widerliches Tier gesehen oder eines, gegen das ich instinktiv eine so starke Abneigung empfand.“ Plötzlich kommt eines auf ihn zu: „Als mich das ekelhafte Ungeheuer erblickte, verzerrte es alle Züge seines Gesichts auf die verschiedenste Weise und starrte mich an wie etwas, was es noch nie gesehen hatte; dann kam es näher und hob die Vorderpfote, ob aus Neugier oder in schlimmer Absicht, konnte ich nicht unterscheiden.“
Halten wir diesen Augenblick fest.
Gulliver schlägt das Ungeheuer mit seinem Hirschfänger, darauf kommen andere und bedrohen ihn. In diesem Augenblick trabt ein Pferd über das Feld und verscheucht die schmutzigen Affenwesen. Das Pferd studiert Gulliver genau, ein zweites Pferd kommt hinzu und unterhält sich mit ihm. Aufgrund der differenzierten Wiehergeräusche ahnt Gulliver, dass sie eine eigene Sprache miteinander sprechen. „Sie waren in großer Ratlosigkeit wegen meiner Schuhe und Strümpfe, die sie mehrmals befühlten, wobei sie miteinander wieherten und verschiedene Gebärden machten, die denen eines Philosophen glichen, der versucht, eine Erklärung für ein neues und problematisches Phänomen zu finden“.
Gulliver hört, wie sie das Wort „Yahoo“ gebrauchen.
Wichtiges Geheimnis
Langsam kommt etwas Kommunikation zustande, Gulliver lernt einige Wörter, wird ins Haus des ersten Pferds mitgenommen. Die Pferde nennen sich selbst „Houyhnhnms“, was „Whinnums“ (mit behauchtem H) ausgesprochen wird („to whinny“ bedeutet „wiehern“, allerdings die sanfte, eher gurrende Variante, nicht das laute Aufwiehern). Möglicherweise ist das Wort eine in die Länge gewieherte Version von „human“.
Die intelligenten Pferde leben in durchaus bürgerlichen Haushalten, sitzen sogar auf den Hinterbeinen und beschäftigen sich still in ihrer Stube mit ihren individuellen häuslichen Pflichten. Ob dieses Bild freiwillig oder unfreiwillig komisch ist, ist gar nicht so leicht festzustellen. Die Yahoos, die schmutzigen Ungeheuer, denen Gulliver zuerst begegnet ist, werden von ihnen als Arbeitstiere in Ställen gehalten.
Gullivers Kleidung ist zu Anfang der einzige Grund dafür, dass sie ihn nicht ebenfalls für einen normalen Yahoo halten. Schließlich zeigen sie ihm, um ihm ihre Irritation zu zeigen, eines dieser Exemplare: „Die Bestie und ich wurden dicht nebeneinandergestellt und unsere Gesichtszüge sowohl vom Herrn als auch vom Diener [einem Rotfuchs] aufmerksam verglichen, worauf sie mehrmals das Wort ‚Yahoo‘ wiederholten. Mein Grauen und mein Erstaunen waren unbeschreiblich, als ich in diesem widerwärtigen Tier eine vollkommen menschliche Gestalt erkannte.“
Wäre die Kleidung nicht – und die allmählich beginnende Kommunikation zwischen Gulliver und den Houyhnhnms – sie hätten ihn wahrscheinlich längst vor ein Fuhrwerk gespannt. Das weiß Gulliver auch: „Ich hatte bisher das Geheimnis meiner Kleidung verborgen, um mich so sehr wie möglich von jenem verfluchten Geschlecht der Yahoos zu unterscheiden.“
Es wird nicht mehr lange gehen. Bald fliegt die Verkleidung auf.
In einem der drei oder vier Gedichte, die in Franz Kafkas Oktavheften zu finden sind, heißt es:
Und die Menschen gehn in Kleidern
schwankend auf dem Kies spazieren
unter diesem großen Himmel,
der von Hügeln in der Ferne
sich zu fernen Hügeln breitet.
Abgesehen von der magischen Ausweglosigkeit der „Hügel in der Ferne“, die sich zu den kaum verschiedenen „fernen Hügeln“ breiten, als gäbe es immer nur sprachliche, niemals aber wirklich räumliche Unterschiede auf der Welt, fällt besonders die Zeile mit den Menschen, die in Kleidern herumgehen, auf. Menschen, die auf dem Kies spazieren gehen, würde sich doch jeder Leser automatisch mit Kleidern vorstellen. Warum also die Erwähnung der Kleider? Weil sie natürlich das Tier sichtbar machen. Das verkleidete Affenwesen, das auf seinen Hinterbeinen über den Planeten schwankt.
Als Gulliver, der Verstellung müde, endlich seine Kleider ablegt und sie von seinem Houyhnhnm-Gastgeber untersuchen lässt, steht er vollkommen nackt da. Und wahrscheinlich ahnt er in diesem Augenblick, was die Geste des ersten Yahoos, der sich ihm auf der Insel näherte, wirklich war, jenes eigenartige Heben der Vorderpfote, das ihm so große Angst jagte: Es war das Angebot eines Händeschüttelns.