Erstellt am: 1. 9. 2011 - 16:00 Uhr
Mit Ledergürtel und sozialistischen Geboten
"Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig. (...) Der Briefträger entdeckt zuerst, woher sie kommt, und alle folgen mit überraschten und angeekelten Blicken seinem Zeigefinger, der auf ein Fenster im dritten Stock eines Mietshauses deutet. (...) Im offenen Fenster ist der Kopf eines Mädchens zu sehen, ein dünner, weit ausholender Arm, und schon fliegt der nächste Batzen."
Alex Reuter
So beginnt Angelika Klüssendorfs Roman "Das Mädchen". Die 12-Jährige, die das Buch durch ihre Pubertät begleiten wird, ist mit ihrem Bruder seit Tagen in der Wohnung eingesperrt, die Toilette im Mietshaus befindet sich einen Halbstock tiefer. Körperlich und psychisch völlig verwahrlost wissen die Kinder nichts anderes anzufangen, als ihre Exkremente auf die Straße zu werfen.
Aggression als Ventil
Dieses Bild ist charakteristisch für die Geschichte. Aggression gegen andere und selbstzerstörerische Spiele werden für die namenlose Romanheldin zum einzigen Ventil für die Misshandlungen, die ihre Eltern ihr zufügen.
In der DDR der 70er-Jahre sind diese selbst Verlierer eines Staatssystems, in dem eigentlich alle gleich sein sollten und Klassenunterschiede theoretisch abgeschafft sind.
Praktisch ist der Vater allerdings ein kleinkrimineller Alkoholiker, der vor allem durch Abwesenheit glänzt, die Mutter arbeitet am Bahnhofsimbiss. Statt sozialistischer Arbeitsdoktrin hängt sie vielmehr kapitalistischen Verheißungen nach, und ist frustriert von ihrem chancenlosen Leben zu einer skrupellosen Sadistin geworden.
Wenn sie ihre Kinder nicht rechtzeitig mit der Stricknadel abtreibt, kommandiert sie sie später zum Wohnung putzen oder Bier holen. Wer bockt, wird bestraft:
"Betrunken findet die Mutter zu ihren alten Zertreuungen zurück; Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt ihm die Mutter mit dem Ledergürtel zwischen die Beine."
Brutalität des Systems
Vor dem willkürlichen Zorn der Mutter flüchtet sich das Mädchen in Traumwelten und Bücher, taucht zeitweise unter, und findet hie und da auch Menschen, die es gut mit ihr meinen. Als sie schließlich wegen Ladendiebstahls und Schule schwänzen im Kinderheim landet, atmet man beim Lesen zunächst auf.
Doch statt der Brutalität der Mutter herrscht in der DDR-Spezialanstalt ideologische Umerziehung. Anschwärzungen des Heimleiters bringen die Jugendliche wiederholt in die Zelle einer Jugendstrafanstalt, und überhaupt kann sie mit dem patriotischen Drill und den Zehn Geboten der sozialistischen Moral wenig anfangen:
Verlag Kiepenheuer & Witsch
- Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, der zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Oktober verliehen wird.
"Wie soll sie ein ganzes Land lieben, fragt sie sich, wenn sie nicht einmal ihre Familie lieben kann. (...) Die anderen neun Gebote erscheinen ihr genauso komisch, das dritte Gebot lautet: 'Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.' Wie soll sie das anstellen? Dem Heimleiter seinen Wartburg wegnehmen und einem Ärmeren schenken?"
Zwischen DDR-Milieustudie und Entwicklungsroman
Zwischen DDR-Milieustudie und Entwicklungsroman liest sich Klüssendorfs Buch wie ein böses Märchen. Die beobachtende Perspektive der Autorin und ihr lakonischer Präsens machen den Horror, durch den sie ihre Protagonistin schickt, noch schauderbarer. Zusehends verroht das Mädchen und stumpft soweit ab, dass sie bestimmte Verhaltensweisen der Mutter wiederholt.
Doch die Härte, die sie nach außen zeigt, wird später bewusst zum Teil ihrer Überlebensstrategie. Sie ist kein Opfer. Sie reflektiert ihre Entwicklung, lässt sich irgendwann nicht mehr alles gefallen, und soweit es unter den gegebenen Umständen möglich ist, holt sie sich, was sie braucht.
Viel Hoffnung auf einen heilenden Neuanfang ist zuletzt trotzdem nicht in Aussicht. Eine schreckliche Geschichte, aber ein gutes Buch.