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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

30. 8. 2011 - 22:55

Journal 2011. Eintrag 163.

Graf, Dominik.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit dem Sukkus aus zwei kurz hintereinander herausgefeuerten Filmen von Dominik Graf.

Vorletzten Sonntag dachte ich mir noch nichts dabei. Auch weil ich den Polizeiruf, das kleine, ungelenke Brüderchen des Tatort eher zufällig, auf einen flüchtigen Programmhinweis oder einer Zeitungs-Empfehlung hin aufgenommen hatte. Und im schon verwirrend und zu schnell erzählten Intro tauchte er dann auf: Regie - Dominik Graf.

Den kenne ich, ohne ihn zu kennen.
Von irgendwelchen Preisverleihungen, Grimme und Co, und von dieser wild-prall-gewagten TV-Serie "Im Angesicht des Verbrechens" aus dem Vorjahr, einem Versuch, der gezeigt hat, dass es auch im deutschen Sprachraum möglich ist, den HBO-Vorbildern nachzujagen.

Die Polizeiruf-Folge, die in München und im bayrischen Umland spielte und einen neuen Kommissar einführte, einen Piefke, einen adeligen noch dazu, hieß "Cassandras Warnung" und hat wenig mit der epischen, manchmal etwas zu langsamen, sich in emotionalen Windungen verlierenden und ein wenig arg dick auftragenden Gangster-Ballade zu tun.
So ein Sonntags-Polizeiruf-Krimi dauert 90 Minuten, und trotzdem legte Graf los als hätte er nur zehn oder fuffzehn: zackzackzack, noch eine Nebenfigur, noch eine Andeutung, noch eine neue Location, noch ein schnell reingestreutes dunkles Geheimnis ... Die Wachtveitl-Nemece von der Tatort-Konkurrenz wären von so einem Tempo derart vom Rad gefallen, die würden sich jetzt noch mühselig aufrappeln.

Grafs Polizeiruf: als hätt' er nur mehr zehn Minuten zu leben

So ging das weiter, vorletzten Sonntag, zackzackzack, atemberaubende 90 Minuten. Weniger wäre mehr gewesen, lautete eine der Überschriften in der Qualitätspresse-Rezensionen (deutschen, hierzulande ... ja, eh ...) - ich hab's nicht weiter gelesen, ist auch sinnlos, denn das Tempo war der Hauptdarsteller, wer das einmahnt, der sollte in einer TV-Dramaturgie festgeschnallt werden, in der alle Figuren immer erklären, was sie tun, obwohl man's eh grade sieht.

Dominik Graf

ARD

Dominik Graf

Der Graf‘sche Polizeiruf war das Gegenteil dieser Betulichkeit: die komplette Überforderung. In einer Ein-Minuten-Sequenz arbeitet der palästinastämmige Bodyguard das Nahost-Problem durch; in Nebensätzen jagen die Figuren die großen Fragen des Lebens - als ob ihr Schöpfer keine Zeit mehr hätte und alles, was irgendwie wichtig ist eben grad, in diesem Krimi erzählen muss, genau jetzt.
Das ist satt und gemein und groß.

Natürlich ist die Auflösung, der Whodunit, dann ein bissl komisch und vielleicht sogar fehlerhaft - aber diesem Fernsehfilm ging es um Szenen wie die hier beschriebene, in der die Veteranin den Neuen klagend durch ein paar Schwabinger Ecken führt und in einer Mischung aus Melancholie und Bitterkeit Anklage führt.

Begegnungen wie diese, zufällige, können eine hohe Effizienz haben, dich aufs Maul hauen wie Wirkungstreffer: Wenn sie allein bleiben, verflüchtigen sie sich.

Grafs Dreileben-Episode: durch Überhöhung zum Realismus

Deshalb war es nachgerade absurd gestern Abend im Rahmen der drei Filme langen Dreileben-Reihe innerhalb so kurzer Zeit wieder einen Graf zu sehen. Er hat sich gemeinsam mit Christian Petzold und Christoph Hochhäusler einem Experiment unterzogen: dieselbe Story, aber drei unterschiedliche Filme. Und die hintereinander, von 20.15 bis knapp vor eins.
Das ist böse, gemein und groß.
Und von einer Intensität, die durchaus weh tut. Die Hochhäusler-Geschichte über die Menschenprägung, und das Sich-Drin-Ergeben; die Petzold-Geschichte über die klassenlose Liebe; die Graf-Geschichte über die Manipulation von Freundschaft.

Jo, Vera und Bruno in "Komm mir nicht nach"

ARD

Jo, Vera und Bruno in Dominik Grafs "Komm mir nicht nach"

Die Graf-Geschichte ist nicht wieder so losgerollt, als würden alle morgen sterben müssen; sie hat sich aber auch nicht auf ausgespielte poetische Momente verlassen - sie war in beiden Welten daheim. Dialoge als Andeutungen, das wichtigere Gespräch findet immer am Nebentisch statt, farbenfrohes Durcheinanderreden statt gestelzter Schleifen, Verzicht auf bedeutungsschwangere Nahaufnahmen, Darstellung der Innenwelten durch Verhalten und Bewegung, nicht per Iris Berben-Zucken.

Natürlich überhöht Graf alles, was er tut, aber es kommt echter daher als die achsoseriösen Imitationen von Leben, die die anderen so anbieten. Insofern ist der Fassbinder-Vergleich, auf den ich bei ein wenig Nachforschen über Graf sofort stoße, auch nachvollziehbar. Genau das war auch ein großer Teil von RWFs Leistung: echter zu sein als das echte Leben, das geht nur in größtmöglicher Verdichtung.

Die Geopolitik der Innenwelten

Der ARD-Digital-Kanal Eins-Festival wiederholt die drei Dreileben-Filme vom Mittwoch bis Freitag jeweils um 20.15 Uhr.
Mittwoch: "Etwas Besseres als den Tod" von Christian Petzold. Donnerstag: "Komm mir nicht nach" von Dominik Graf. Freitag: "Eine Minute Dunkel" von Christoph Hochhäusler.

Dass es in Dreileben, den drei auch schon im Filmmuseum aufgeführten Juwelen (für die ebenso wie für die anderen Graf-Film gilt, dass Quotendenken als rücksichtnehmender Anker nur für eine Bremsspur, für nichts sonst sorgen kann), auch und vielleicht sogar vor allem um den Ort der Allerwelts-Krimi-Handlung (Straftäter bricht aus, Kurort dadurch in Spannung und Panik versetzt) geht, um den Thüringer Wald und um den Osten bzw. um das, was daraus wurde, das zeigt Graf in seinem, dem mittleren Film am deutlichsten. Das, was Christian Buß hier im Spiegel schreibt, von wegen "wohnungs- und städtebaulichen Verleugnungskampf des Menschen" als Leitmotiv des Dominik Graf, ist womöglich ein klein wenig übertrieben; dass Topographie und Geopolitik in diesem Dreierpack eine gewichtige Rolle spielen, ist aber unübersehbar. Und ähnliches galt auch für den Polizeiruf.

Nur in diesen scheinbar nebengelagerten Sichtbarkeiten zeigt sich wer etwas zu erzählen hat, wer etwas anzubieten hat, wer gemein und groß ist..