Erstellt am: 29. 8. 2011 - 22:55 Uhr
Journal 2011. Eintrag 162.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einem weiteren Beitrag aus Anlass der Leichtatlethik-WM in Südkorea und des Starts von Oscar Pistorius.
Oscar Pistorius hat es nicht geschafft: er wurde in seinem Vorschlusslauf über die 400-Meter-Distanz nur Letzter. Der Südafrikaner war damit aber nicht unzufrieden: das Semifinale sei sein sportliches Ziel gewesen, wird er zitiert, und dafür hatte er sich mit Bravour qualifiziert. Das andere Ziel, dass er nämlich überhaupt antreten darf, erreicht zu haben, ist merklich mehr wert.
Oscar Pistorius' Körper endet unterhalb seiner Knie. Keine Unterschenkel, keine Füße, nichts. Die Stadionrunde läuft er auf Karbon-Beinen, auf einer Hilfskonstruktion, den Blades, wie er sie nennt.
Den Blade Runner nennen ihn die Medien, seit er bei den Paralympics seine Klasse dominiert und neue Maßstäbe über die Kurzstrecken gesetzt hat.
Der Stelzenmann rennt allen Österreichern auf und davon
Dass Pistorius aus dem sportlichen Ghetto des Behindertensports (trotz all seiner mittlerweile clever gesetzten Popularisierung) irgendwann ausbrechen wollen würde, war aber nur allzu logisch. Und auch gerechtfertigt. Denn der Blade Runner würde jedem Österreicher mit zwei Naturbeinen davonrennen, über die 400 Meter. Jedem.
Und genau dort beginnen die Probleme und Diskussionen. Und die erzählen uns sehr viel über uns selbst, über den Bewusstseinsstand der Spezies - und weniger über den Einzelfall Pistorius.
orf
Diskutiert wird in erster Linie die Frage, ob die Blades ihrem Runner nicht Vorteile verschaffen, auf die Normalfüßler nicht zurückgreifen können. Ob also ein Borg, ein Halb-Maschinen-Mensch überhaupt regulär in den Bewerbs-Parametern steht.
Diese Debatte ist eine moralische und philosophische, die interessanterweise in der Science Fiction weitaus fortgeschrittener dargelegt wird, als in den großteils biologistischen aktuellen Beiträgen.
Dass die Frage des verschafften Vorteils in Wahrheit aber eine Ebene höher greift, das wird aktuell ausgespart.
Die Teilnahme am Sport als Klassen-Frage
Oscar Pistorius kommt aus einer reichen Familie der weißen Oberschicht Südafrikas; er ist kein Vorzeige-Kid aus der Lady Di-Stiftung für Landminen-Opfer, kein unterprivilegiertes Musterbeispiel.
Und das macht die Frage des Vorteils dann auch brisant. Konsequent weitergedacht bedeutet das Zulassen der Blades, also mechanischer Hilfen, dass sich letztlich jede/r mit dem nötigen fnanziellen Background einen Vorteil erkaufen kann - ohne damit die Grundregeln des Sports (die gleichen Vorraussetzungen) beachten zu müssen.
Natürlich ist Sport eine Frage der Klasse, der gesellschaftlichen. Nicht nur Polo oder Golf, letztlich jeder Sport, in dem es auch um Material geht.
Und so sehr die Blades Pistorius und allen Beinamputierten (und damit allen Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen) weltweit Hoffnung und das Gefühl der Akzeptanz vermitteln, so problematisch sind die moralischen Konsequenzen. Denn Körper-Modifizierungen sind seit einiger Zeit nicht nur ein Massen-Phänomen, sondern mittlerweile auch der letzte Rückzugsraum der Unterpriviligierten. Und im Sport, zumal im Spitzensport, manifestiert sich das am Anschaulichsten.
reuters
Dabei ist dann manches heikler als anderes.
Mit Pistorius Blades hat sich die IAAF etwa deutlich problemloser abgefunden als mit der unklaren Geschlechtszugehörigkeit von Caster Semenya.
Die hat auch ihre Teilnahme-Erlaubbnis bekommen - der Appluas dafür hält sich aber in Grenzen.
Mit anderen Benachteiligungen tut man sich weit schwerer
Jemand, der sein Leben als Frau bestreitet, dessen Chromosomenlage aber nicht eindeutig ist (was in der Natur nun einmal vorkommt, selten zwar, aber häufiger, als man annimmt) bekommt also deutlich mehr Gegenwind als jemand, der sein Leben wie ein "Normaler" bestreiten will und dafür technische Hilfsmittel aufwendet.
Ich will (wie überhaupt in der gesamten Frage; von mir aus sollen alle kunterbunt teilnehmen) nicht werten: aber letztlich bedeutet das, dass komplexe Technik schneller ein Okay bekommt als verwirrende Natur-Produkte. Das hat vielleicht damit zu tun, dass sich eine Gesellschaft wie die unsere leichter und besser mit wilden Maschinen-Fantasien auseinandersetzt, als mit unklaren Geschlechtlichkeiten. Lieber glänzendes Metall bewundern als seltsame Ausprägungen "da unten".
Das riecht nach immer noch unbewältigtem 19. Jahhundert-Mief, oder? Und es ist ein Zivilsations-Problem. Einige sogenannte Naturvölker leben mit drei bis vier Geschlechtern, ohne dadurch sexuell verwirrt zu werden; alles nur eine Frage der Kultiviertheit.
Kultiviertheit? Kultiviertheit!
Kultiviert wäre es, wenn die Blade Runner der Zukunft auf Sprungfedern-Tricks verzichten könnten - und wenn der Behindertensport die Klassenschranken durchbrechen könnte.
Denn die Tatsache, dass es ein reicher weißer Südafrikaner war, der einen der wichtigsten Schritte in der Gleichberechtigung setzen konnte, wird nur dann mit Sinn unterfüttert werden, wenn die Gleichheit auch denen zu Gute kommen wird, die nicht in sie hineingeboren wurden. Andernfalls bleibt alles nur ein Gag.