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Clemens Setz

Schriftsteller und Übersetzer

29. 8. 2011 - 13:13

Widerlegungen der Unsterblichkeit

Mit Clemens Setz auf "Gullivers Reisen". Teil 12: Die Unsterblichen. Eine Sommer-Mit-Lese-Aktion.

Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz

„We are going to die, and that makes us the lucky ones. Most people are never going to die because they are never going to be born. The potential people who could have been here in my place but who will in fact never see the light of day outnumber the sand grains of Arabia. Certainly those unborn ghosts include greater poets than Keats, scientists greater than Newton. We know this because the set of possible people allowed by our DNA so massively exceeds the set of actual people. In the teeth of these stupefying odds it is you and I, in our ordinariness, that are here.“
(Richard Dawkins, „Unweaving the Rainbow“)

Im Königreich Luggnagg erfährt Gulliver von einer geheimnisvollen Kaste, den „Struldbrugs“ oder „Unsterblichen“. Man erklärt Gulliver, dass es bisweilen geschehe, „dass in einer Familie ein Kind mit einem kreisrunden roten Fleck auf der Stirn, gerade über der linken Augenbraue, geboren wird, der ein unfehlbares Zeichen sei, dass es niemals sterben werde.“

Gulliver ist sofort entzückt von dieser Vorstellung und malt sich aus, was er an der Stelle dieser, wie er meint, gesegneten unsterblichen Wesen tun würde. Er würde sich Reichtümer erwerben, er würde alle Künste und Wissenschaften erlernen und danach streben, die „unfehlbare Autorität der Nation“ zu werden. Obwohl er in seiner begeisterten Fantasie bereits einen kleinen Einwand ertastet: „... die Länge der Zeit würde mich daran gewöhnen, euch mit nur wenig oder gar keinem Bedauern zu verlieren und eure Nachkommen in derselben Art zu behandeln, so wie man sich an der alljährlichen Aufeinanderfolge der Nelken und Tulpen in seinem Garten erfreut, ohne den Verlust derjenigen zu bedauern, die im vorigen Jahr verwelkt sind“.

Vielleicht stockt ihm bei dieser Aufzählung ein wenig der Atem; Swift verrät es uns nicht. Aber was er andeutet, ist auch das, was schon William Burroughs in seinem Tagebuch „Last Words“ schrieb: Je weniger sterblich ein menschliches Wesen ist, desto weniger Zuneigung kann es auch entwickeln. Wem der Tod am Ende fehlt, der könnte auch nichts mehr gut finden, da ihn der unendliche Male erlebte Verlust der angenehmen Dinge unendlich abstumpfen und mit Sicherheit auch wahnsinnig würde.

Natürlich wird die Illusion bald zerstört: Die Struldbrugs sind zwar unsterblich, genießen aber keine ewige Jugend. Grotesk gealtert wandern sie umher, zu kaum irgendeiner geistigen Anstrengung fähig, in einem Ende, das nie aufhört, gefangen wie der „Namenlose“ im Roman von Beckett.
Als er sie endlich zu Gesicht bekommt, fühlt sich Gulliver von jeder Todesfurcht geheilt, da die Alternative, ewig zu altern, die reinste Hölle darstellt.

Natürlich hätte Jonathan Swift hier noch einen Schritt weitergehen können. Es wäre bestimmt in seiner Macht gestanden, eine Gruppe von Menschen zu erfinden, die mit ewiger Jugend gesegnet ist. Ihre Zellen altern nicht auf die Weise wie es die normaler Menschen tun.
Solche Menschen gibt es. Brooke Greenberg, ein achtzehnjähriges Mädchen aus Maryland, zeigt seit ihrer Geburt angeblich keinerlei Alterserscheinungen.

Die meisten Zeitungsartikel, die über sie geschrieben wurden, sind unlesbar, weil in ihnen immer inbrünstig beschworen wird, sie sei möglicherweise „die Quelle für die Unsterblichkeit“ und so weiter. Wenn sie sich gleich langsam weiterentwickele wie bisher, könne sie ein Alter von 500 oder vielleicht sogar 1000 Jahren erreichen, heißt es.
Ich hab natürlich nicht die geringste Ahnung, was das alles wirklich bedeutet, Brookes Ärzte wissen auch nicht viel mehr (in ihrer Hilflosigkeit haben sie der unbekannten Störung sogar einen fantasielosen Namen gegeben „Syndrom X“).

gullivers reisen

insel verlag

Jonathan Swift: "Gullivers Reisen", in einer Übersetzung von Franz Kottenkamp, erschienen im Insel Taschenbuch

Aber eines ist natürlich klar: Wenn ewige Jugend tatsächlich so aussieht, dann bezahlt man sie mit dem hohen und indiskutablen Preis, dass sich auch das Gehirn nicht mehr verändert. Brooke ist mit achtzehn Jahren noch auf dem geistigen und neurologischen Niveau eines einjährigen Kindes. Und wer weiß, ob man in dieser Geschwindigkeit überhaupt etwas lernen kann. Es erinnert an den Tyrannosaurus Rex, von dem ich, wie ich mich noch genau erinnere, in der Schule gelernt habe, dass er Dinge, die sich schnell bewegten, gar nicht sehen konnte.

Der letzte mögliche Schritt, das Konzept der Unsterblichkeit zu verteidigen, besteht darin, sie ins Jenseits zu verlagern. Man stirbt und lebt dann trotzdem irgendwie weiter. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Konzept schon erklärt bekommen habe, meist in tröstender Absicht. Aber jedes Mal war mein Horror davor viel größer, als es jede Art von Trost sein könnte: Mein Bewusstsein, von dem ich bereits jetzt (mit 28 Jahren) in regelmäßigen Abständen die Nase voll habe, würde mich ewig verfolgen. Wie zum Teufel soll ich da eine unbegrenzte Zeit mit diesem Bewusstsein verbringen?

Nein, diese entsetzliche Hölle ist angenehmerweise so unwahrscheinlich, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Ich habe furchtbare Angst vor dem Sterben, aber die Tatsache, dass es danach nicht noch endlos weitergeht, sondern dass nur das vollkommene Nichts auf mich wartet, tröstet und beruhigt mich. Mir kann, im Grunde, nichts passieren.