Erstellt am: 27. 8. 2011 - 22:35 Uhr
Journal 2011. Eintrag 161.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Heute mit einer peinlichen Selbst-Befragung anlässlich des Usain Bolt-Auftritts bei der Leichtathletik-WM in Korea.
Es widerspricht allem, was ich weiß.
Ich weiß wie weltweite Brands arbeiten, wie subtil die in die Psyche hineinleuchten.
Ich weiß wie Sport-Marketing funktioniert.
Ich weiß, dass in alle Kraft/Schnelligkeits-Sportarten massiv gedopt wird.
Ich weiß, dass überraschende Leistungssteigerungen keine Wunder sind.
Ich weiß, dass große und alles überstrahlende sportliche Attraktivitäten nichts als Ablenkung sind, die mithelfen sollen, dass sich Nichtshaber und bewußt in die Chancenlosigkeit Abgehängte nicht erheben.
Weiß ich alles; in Theorie und Praxis.
Trotzdem braucht Usain Bolt nur einmal mit der Kamera zu schäkern, er muss nur eine kleine Pantomime aufführen und schon bin ich ein kritikloses Groupie und applaudiere ihm. Und lasse nichts über ihn kommen. Und werde seine Rennen mit klammen Händen und banger Vorfreude verfolgen.
Ich bin nicht übergeschnappt, ich bin nur Fan. Und zwar gegen alle Vernunft.
Beware of a lightning that might strike...
Klar, ich könnte mich auf eine Prädisposition ausreden, auf so etwas wie Hingabe zum 100-Meter-Lauf an sich,
Elend langes Brimborium, dann die Super-Konzentrationsphase rund um den Start, und dann zehn Sekunden Getöse und Geschreie und sofortige Reaktion von Jubel und Entsetzen.
Ich könnte die Schärfung der Sinne betonen, die das Verfolgen dieser zehn Sekunden befördert. Denn in diesen zehn Sekunden gilt es acht Läufer im Auge zu behalten, oder zumindest drei, vier, fünf. Der, der die Zeitlupe braucht um sicher zu sein wer denn auf Podium kommt, der hat den Lauf schon verloren.
In zehn Sekunden tut sich ein vielschichtiges Schlachtengemälde auf. Und das in seiner Wucht und Dichte zu überblicken, das macht schon was her. In einer ganz alten Micky-Maus aus meinen Kindertagen war einmal ein Gemälde über die Schlacht am Little Big Horn abgedruckt; wie Custer, seine Brüder und seine Gefolgsleute gegen Crazy Horse ins Debakel liefen. Letztlich ist die Gleichzeitigkeit der dort dargestellten Ereignisse eine gefrorene Version eines 100-Meter-Finallaufs.
Und das ist als Faszinosum unerreichbar.
Die moderne Variante alter Schlachtengemälde
Nicht war und bin ich aber deshalb nicht automatisch auch Fan des jeweils Besten. Eher im Gegenteil. Carl Lewis, Linford Christie, Leroy Burrel, Mo Greene oder Gatlin - bäh! Bis auf den ewigen Hasely Crawford, den ich nicht zufällig erst jüngst wieder namegedroppt habe, waren meine Heroes immer die Unterlegenen. Don Quarrie, Frankie Fredericks, Tim Montgomery, Ato Boldon...
Auch Usain Bolt fängt in dieser Rolle an. Er ist schon fast ein ewiges Talent, ein weiterer Ex-Juniorenweltrekordler halt, als er 2007 überraschend WM-Zweiter wird. Er und nicht Asafa Powell, der bis dorthin bessere Jamaikaner.
Dann kommt 2008, die Leistungsexplosion und Olympia in Peking und Bolt demoliert Konkurrenz und Uhr: das ist die Geburtsstunde eines Mainstream-Superstars. Nicht so sehr, weil er die 100 und die 200 Meter gewinnt, sondern deshalb wie er das gewinnt - unendlich überlegen, in vorzeitigem Jubel schon Meter vor der Ziellinie (er hätte 9,55 laufen können, wenn er durchgezogen hätte). Und auch weil er dann nicht einen auf Putin oder Sarkozy, sondern uns den Obama macht.
Denn Bolt macht aus seiner Überlegenheit keine Religion, keinen Kult und auch keine Anhäufung von Posen-Kapital - er zieht den ironischen Schmäh vor.
Usain Bolt macht uns den Obama
Bolt krampft nicht, wie es Carl Lewis und die anderen Bosse früher taten - er versucht erst gar nicht die Phrase von der harten Arbeit in den Vordergrund zu schieben. Die Sichtbarkeit der Anstregung und der Besonderheit ist in diesem Sport eh sowas von gegeben - also betont Usain Bolt das Tänzerische, das Körperliche, die Gestik, die Mimik.
Und hat damit aktuell (denn die Zeiten von Montgomery sind ja vorbei) ein Alleinstellungsmerkmal.
Das wieder sieht der Sponsor gern und setzt sich drauf.
Ich, das Groupie, war 2009 wegen Bolt bei der Leichtathletik-WM in Berlin, im alten Olympiastadion mit der neuen blauen Laufbahn um dort den neuen Weltrekordlauf zu sehen. Und mindestens ebenso eindrucksvoll wie dieser Sprint waren Bolts Flirts mit den Kameras, den Zuschauern, dem Maskottchen und der Atmosphäre. Und noch eindrucksvoller war die erffektivität der Branding-Meister von Puma, die es geschafft hatten die gesamte Stadt in eine Art Bolt-Town zu verwandeln: mit Plakaten, Tags, Graffitis, Gesten und einer daraus resultierenden Medien-Präsenz.
Bolts neu entwickelte Geste, das stilisierte Abfeuern eines Blitzes, war in den dümmlichsten Schaumgummi-Abbildern präsent - und ich konnte trotzdem niemandem böse sein.
Die kleine Pantomime, der kleine Move, die kleine Geste...
Ich kann das bis heute nicht, und jetzt, wo er seinen ersten Auftritt in Daegu/Korea hat und in seinem ersten Heat wieder allen fröhlichst davonläuft, kann ich es wieder nicht.
Ja, natürlich sagt der Trubel um Bolt letztlich, dass Doping eh nicht so schlimm ist.
Ja, er reiht um ein als brave Konsumenten, als biedere Opfer von Image-Kampagnen für Sportartikel.
Und, ja, Spektakel wie diese LA-WM lenken von den wirklich bedeutsamen Dingen ab, klar.
Nur: das passiert auch ganz ohne Bolt oder andere Sympathieträger. Diese Maschinerie zieht ihr Programm mit jedem durch. Da genügt mir dann die kleine ironische Genugtuung, dass sie es hier mit einem Anarcho-Typen zu tun haben.
Denn früher, als etwa Carl Lewis im Mittelpunkt dieser Werbe-Auftritte stand, hatten die Auftritte nicht die spielerische clowneske Leichtigkeit, die Bolt ihnen verleiht - sie waren steif und beklemmend. Lewis, der Zeit seines Karrierre-Lebens Angst davor hatte, dass seine Homosexualität Medien-Thema sein würde, und alles tat um dieses Kapitel bedeckt zu halten (was ihm leichtfiel, weil er und die Santa Monica-Mafia mit vergleichbarere Kraft ja auch das massive Doping der US-Sprinter vertuschen mussten) strahlte diese Schwere immer aus. Letztlich war es dieses Klima, dass dem Sprintsport dann auch sein zentrales Bauernopfer (Ben Johnson) darbrachte - um so sicherzustellen, dass die Branche weiter ungestört am illegalen Fördern von Unmöglichem arbeiten darf.
Klassische Sport-Betrügerei, zumindest korrekt umverteilt
Klar, dass mir Usain Bolt auch deshalb lieber ist, weil er es war, der das Ende der US-Herrschaft über den Sprint eingeläutet hat. Seit Bolt stehen die eigentliche besten 100-Meter-Läufer (die Jungs aus der Karibik, aus Jamaica, Trinidad und anderen kleinen Inseln) dort wo sie immer schon hingehört haben: ganz an der Spitze. Weil sie jetzt auch zugang zur Top-Technologie und zum großen Marketing-Reibach haben.
Letztlich ist auch das eine Art Umverteilung.
Mittlerweile hat die Jamaica-Connection die alte US-Überlegenheit beendet - die Schlagabtäusche der beiden Sprint-Supermächte finden aber weiter nur hinter den Kulissen statt. Zuerst zog US-Star Tyson Gay sich unerwartet zurück, dann wurde ein Jamaicaner, Steve Mullings, dopingmäßig rwischt, dann mit Mike Rodgers ein US-Sprinter. Gestern erst wurde bekannt, dass Asafa Powell (aus ungenannten Gründen, räusperräusper) nicht starten wird. Die US-Truppe wird von Justin Gatlin angeführt, der nach einer vierjährigen Dopingsperre zurückkommt. Und die jungen Briten sehen allesamt aus wie Linford-Christie-Kopien, peinlich fleischgewordene Michelin-Männchen.
Sie sind allesamt Täter, keine Frage.
Bloß: Bolt sieht aufgrund seiner enormen Physis, seiner Größe und seiner speziellen Beweglichkeit vergleichsweise noch am menschlichsten aus. Und er verstärkt diesen Eindruck, wenn er den Live-Kameras seine kleinen, immer extra und aktuell für sie erfundenen 'pantomimes & moves' zeigt. Das hebt ihn so stark von den Maschinen-Typen der Konkurrenz, von den Strebern und Klemmern der Vergangenheit ab.
Die 100 Meter als jamaikanischer Clean Sweep?
Und die Show liefert Bolt dann allemal: Out wegen eines kapitalen Fehlstarts. Damit ist der Weg frei von Yohan Blake, der den Lauf dann klar beherrscht; Dix krampft sich zu Platz 2, Collins strahlt sich zu Bronze, Nesta Carter hat das Out des Chefs so mitgenommen, dass er den Lauf völlig vergeigt. Die Franzosen (neben Lemaitre hat es zu meiner Überraschung auch Junior Vicaut geschafft) bleiben im Rahmen. Bolt wird jetzt die 200 Meter wichtiger machen als sie sind.
Morgen werden die 100 Meter schon entschieden: um 11.30 gibts die drei Vorschlußrennen, um 13.45 dann das Finale Grande.
Und nach den Eindrücken aus den Heats von heute nachmittag ist sogar ein clean sweep der Jamaikaner möglich.
Nesta Carter und Michael Frater sahen in ihren Vorläufen sehr sicher aus; und Jungstar Yohan Blake war noch beeindruckender. Gatlin und Dix, die Amerikaner liefen noch taktisch. Ebenso wie Richard Thompson und Keston Bledman aus Trinidad. Kim Collins, der Oldie aus St. Kitts, sah gut aus, Daniel Bailey aus Antigua auch. Und auch der einzige white boy mit Kickstart, Alpensohn Christophe Lemaitre, war wirklich überzeugend. Andere Finalisten sehe ich nicht.
Usain Bolt wird eine große Show liefern, so oder so. Und ich werde mich wieder zum Affen machen, im vollen Bewusstsein.