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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

25. 8. 2011 - 23:03

Journal 2011. Eintrag 159.

Die Wetterlage kommt vor den Menschen, oder: der Kolonialismus funktioniert. Eine Geschichte aus Trinidad.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einer Geschichte, die in Trinidad spielt.

Meine Freundin befindet sich gerade auf Studienreise in der Karibik. Die führt sie auf drei Inseln mit geografischer Nähe zum südamerikanischen Festland (die hören auf schöne Bezeichnungen wie 'Leeward Islands" oder Inseln unter dem Winde).

Ihre Mutter hat ein paar Tage vor Abflug ganz hektisch angerufen, weil auf einer anderen Karibik-Insel zwei Österreicher bei einem brutalen Raub erschossen wurden. Aber ich wette die Karibik-Mutti wird ihre nach Österreich in Europa aufbrechende Tochter auch auch erschreckt kontaktieren, wenn jemand in Ungarn ermordet wird.

Anfang dieser Woche hat dann meine Mutter angerufen um besorgt nachzufragen ob der üble Hurrikan Irene eine Gefahr bedeuten würde. Der wurde über den großen Antillen groß und zieht jetzt US-ostküstenwärts und hat die kleinen Antillen nie tangiert. Aber Karibik bleibt eben Karibik.

Gestern habe ich dann eine Nachricht von der Landung auf der dritten Station bekommen: "Ankunft Trinidad! Noch nichts von den Riots gemerkt, Aber Ausgangssperre von 9 - 5. Kriegt man in Europa was davon mit?".

Riots?
Trinidad?
Trinidad & Tobago, das Steeldrum-Paradies, die Heimat von Haseley Crawford?
What the Fuck!?

Ausnahmezustand in Trinidad - und keine Sau interessiert's

Ich hab nachgecheckt: in den hiesigen Medien kein Thema; in deutschsprachigen Medien kein Thema.

BBC World News weiß ein bisschen was. Logisch, die Bande zwischen Trinidad & Tobago und Großbritannien sind mehr als eng. T&T stellt nach Jamaica den größten Teil der Afrokaribischen Community im UK.

Aber da ist von einer Sondermaßnahme gegen "violent crime" die Rede, nachdem es im Zusammenhang mit Drug-Trafficking zu 11 Morden in ein paar Tagen gekommen war.

Der Präsident sagt: "The nation will not be held to ransom by marauding gangs of thugs bent on creating havoc on our society." Der Oppositionsführer sagt: "Our initial thought is that this is a panic response which has not been the product of any serious deliberations."

Im netzmäßig leicht zu findenden Trinidad-Express wird differenzierter kommentiert: "After all, the Government cannot declare a state of emergency every time there is a jump in murders." Und: "Most of all, the suspension of constitutional rights does not address the core issue of a cadre of young men who see criminal acts as their best option in life."

Echoes of London - die Angst vor Riots

Dieser Hintergrund wird in einem anderen Kommentar, der vor der Ausgangssperre enstand, noch deutlicher. Da werden die Gewalt-Ausbrüche als "Echoes of London" bezeichnet: Auch in Trinidad & Tobago führten Polizei-Übergriffe zu sofort aufflammendem Protest, als Kristallisations-Punkt über Frustration und Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, auch in den "so-called crime hot spots", die die Regierung mit der Maßnahme der Ausgangssperre ausräuchern will.

Und dann wird Rajiv Gopie, der an der London School of Economics studiert und Träger einer präsidialen Uni-Medaille ist, deutlicher: "We too in T&T are witnessing an expanding gap between the haves and the have nots, the gap between the classes of society is enormous. The major problem is, that our middle class, like so many others around the world, is being squeezed down into poverty once again by international macroeconomic factors, rising prices, stagnant income and recent unemployment."

Gopie fragt sich, ob sich London in Port of Spain wiederholen könnte: "Maybe or maybe not, but it does warrant that we take a good, long look at ourselves and sort out our issues, or else we already know what the price will look like."

Ausgangssperre um für Sicherheit in Crime-Spots zu sorgen

Mittlerweile hat die Regierung mit der Verhängung des (beschränkten) Ausnahme-Zustands geantwortet. Die touristisch genutzte Insel Tobago ist nicht betroffen, er gilt "nur für die Insel Trinidad, auf der sich kaum Touristen aufhalten, und besteht in einer Ausgangssperre zwischen 21 Uhr und 5 Uhr für folgende Regionen: Port of Spain, San Fernando, Arima, Chaguanas, San Juan/Laventille und Diego Martin." Das erzählt das deutsche Auswärtige Amt, sagen Touristik-Seiten (ich habe auf der AA-Website nichts gefunden, ebensowenig wie auf der Seite des österreichischen Außenministeriums.
Da es in Trinidad selber aber kaum Touristen gibt - eh wurscht.

Mittlerweile kommt man allerdings nicht einmal mehr in die Touri-Gegenden, selbst wenn man wollte: "Totenstille in der Stadt, gruselig ... Beunruhigender Exodus, die Leute hier wollen weg, alle Fähren nach Tobago eingestellt ... Es geht hier vor allem um einen 'War on the poor'", schreibt meine Freundin.

Heute wissen immerhin der Guardian oder die New York Times schon deutlich mehr zu berichten.

Tiefer als die kritische Berichterstattung im Trinidad Express taucht aber niemand ein.

Im Windschatten des britischen Gouvernantenstaats

Dabei liegt der ein politischer Schluss ganz nahe. Eben weil man sich in Trinidad recht intensiv mit den Geschehnissen in England auseinandersetzt, ist es doch recht auffällig, dass die Verhängung des Ausnahmezustands just nach den englischen Riots und den bewusst harten, ja eskalierenden Maßnahmen, die die britische Regierung aktuell setzt (von Robert Rotifer hier zurecht als Gouvernantenstaat gebrandmarkt) erfolgt.

Da die Probleme mit den Drogenschmuggler-Banden und ihren Scharmützeln ja nicht erst seit gestern virulent sind, ist der Zeitpunkt der recht rigiden Maßnahme doch recht verdächtig. Zumal man, wie von Gopie oben angedeutet, ja auch mit Folgeerscheinungen der Riots im Ex-Mutterland rechnen musste.

Und das finde ich, rein phänomenologisch ja fast noch interessanter als unsere immer noch lächerlich eurozentrische Sicht der Welt, in der wir die Karibik ausschließlich via Wetter- und Tourismus-Dienste wahrnehmen und kein Interesse whatsoever an den Menschen und den Zuständen dort haben (dass wir uns trotzdem trauen von einer überglobalisierten Welt zu sprechen, in der eh alle alles von überall im Echtzeit wissen, stellt sich in solchen Momenten dann als besonders dümmlicher Selbstbetrug heraus...).

Das ist zwar auch mehr als nur ein Schulterzucken wert, und braucht auch immer wieder Erwähnung - neu ist es nicht.

Kolonialismus als Zwei-Weg-Schmäh

Dass aber die Regierung der ehemaligen Kolonie im Windschatten der alten Kolonialherren herumdruckst um deren Hegemonial-Politik zu kopieren - die richtet sich mittlerweile, im koloniefreien Raum, gegen die eigene Unterschicht, basiert aber auf denselben Unterdrückungs-Mechanismen - das hat echten politischen Pfiff. Das ist nah dran an der puren Verhöhung.

Die Seilschaften des guten alten Kolonialismus funktionieren also weiter prächtig, und zwar in beide Richtungen.