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Clemens Setz

Schriftsteller und Übersetzer

25. 8. 2011 - 14:38

Das metaphysische Jojo

Mit Clemens Setz auf "Gullivers Reisen". Teil 11: Darstellung der Geister. Eine Sommer-Mit-Lese-Aktion.

Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz

Bei seinem Ausflug auf die kleine Insel Glubbdubdrib wird Gulliver mit etwas konfrontiert, wovon schon viele Menschen geträumt haben. Ein mächtiger Zauberer, der als Statthalter fungiert, beherrscht die hohe Kunst des metaphysischen Jojo-Spiels: Er kann Menschen töten und sie als Geister wieder ins Leben zurückzerren, immer hin und her, hin und her.

So ähnlich wie das hier, bloß jenseitiger...

(by the way: Ja, das ist tatsächlich Ricky Gervais...)

Der Zauberer holt die Toten aus dem Jenseits zurück und lässt ihre Geister für sich arbeiten. Wenn er sie nicht mehr benötigt, wischt er sie durch „einen Wink mit dem Finger“ weg und holt sich später neue.

Ich glaube, man kann die Qualität eines Schriftstellers fast immer an der Art ablesen, wie er Geister darstellt. Sein Verhältnis zu ihnen, seine bildliche Beschreibung von ihnen. Bei manchen werden sie beschrieben wie die Menschen auf Google Streetview, stille, am Straßenrand stehende Gestalten mit verwischten Gesichtern, bei anderen sind es eher körperlose Erscheinungen. Wie sehen sie bei Swift aus?

„Der Eintritt wurde sogleich gewährt, und zwischen zwei Reihen von Wachen, die auf sehr bizarre Art bewaffnet und gekleidet waren und in deren Mienen etwas lag, dass es mich vor einem Grauen, das ich nicht ausdrücken kann, kalt überlief, traten wir durch das Tor des Palastes ein.“

Bizarr bewaffnet und gekleidet. Man überliest es leicht. Aber ein anderer Schriftsteller hätte durchaus auch „prächtig gekleidet“ schreiben können. Oberflächlich gesehen ist der Unterschied recht klein. Aber was ist die „sehr bizarre Art“? Eine Formulierung, die unklar und zugleich sehr deutlich wirkt, wie der Anblick eines detaillierten Bildes in einem Traum. Es suggeriert Unordnung, vielleicht bizarre Kombinationen, eine generelle Travestie des Kleidungsrituals, welches die Lebenden von den Toten unterscheidet.

Der Zauberer erweist Gulliver den großen Dienst, ihm berühmte Tote aus der Vergangenheit hervorzukramen. Und dann beginnt ein langer Reigen von Wiedergängern, Alexander der Große und Caesar und die großen Philosophen der Vergangenheit, auch Homer und die Dichter der Antike treten auf (und wir lernen, dass es im Jenseits eine eigene Nische ihrer Kommentatoren, heute würde man sagen: Rezensenten und Literaturwissenschaftler, gibt: Sie halten sich stets im von ihren verehrten Meistern entferntesten Winkel auf, da sie sich schämen, sie so falsch dargestellt zu haben).
Natürlich ahnt man als Leser schon die große Dekonstruktion, die vom Autor vorbereitet wird. Die legendären Feldherren stellen sich als gewöhnliche Ahnungslose heraus, die Aristokratie als ein durch Inzucht form- und talentlos gemachter Haufen:

„Ich konnte deutlich entdecken, woher die eine Familie ein langes Kinn erhalten hat; weshalb eine andere zwei Generationen lang Überfluss an Schurken und zwei weitere an Dummköpfen hatte; weshalb eine dritte verrückt war und eine vierte aus Gaunern bestand.“

Korruption, Niedertracht, Wahnsinn sind die Merkmale der Mächtigen, eine nicht gerade überraschende Einsicht, aber eine, die sehr wohl in der Programm des Romans passt. Auch Gulliver selbst erhält eine kleine Lektion darin, die ihn wahrscheinlich nicht weiter überrascht: Als er in das Königreich Luggnagg kommt, muss er den Staub vor dem Fußschemel des Königs auflecken. „Das ist der Hofstil“, der sehr ernst genommen wird - im Staub vor dem königlichen Schemel spielt sich der ganze Machtdiskurs ab. Für höhergestellte Besucher des Throns wird der Boden gekehrt, für andere wird er zusätzlich mit Staub bestreut („Und ich habe einen hohen Herrn mit so vollgestopftem Mund gesehen, dass er, als er bis auf den gebührenden Abstand vom Thron herangekrochen war, kein einziges Wort sagen konnte.“). Wenn Feinde zu Besuch kommen, wird der Staub vergiftet.

Aber spulen wir kurz zurück. Gulliver fragt mitten in der Geisterbeschau der Vergangenheit nach Menschen, die ihren Mitgeschöpfen einen großen Dienst erwiesen haben. Wie zu erwarten, ist ihr Name niemandem, nicht mal den Bewohnern des Jenseits bekannt.

Am 26. 9. 1983 kam es bei der sowjetischen Luftraumüberwachung zu einem Computerfehler. Sonnenreflexionen auf Wolken in der Nähe der Malmstrom Air Force Base in Montana, in der mehrere amerikanische Interkontinentalraketen stationiert waren, wurden von der Software als der Start von fünf Atomraketen in Richtung Sowjetunion interpretiert. Der an diesem Tag diensthabende Offizier Stanislaw Petrow dachte, dass fünf Raketen doch zu wenig für einen atomaren Schlag der USA sein müssten, außerdem war die Wahrscheinlichkeit für einen tatsächlichen Angriff der USA sehr gering. Also machte er etwas ganz Außerordentliches: Er tat die Meldung als falschen Alarm bzw. Computerfehler ab. Er hatte recht und verhinderte durch seine Einschätzung den atomaren Gegenschlag der Sowjetunion, der in diesem Fall automatisch vorgesehen gewesen wäre. Am nächsten Tag erhielt er von seinen Vorgesetzten einen Verweis, da er die Meldung nicht weitergeleitet hatte. Heute lebt er als armer Rentner in Frjasino.

der Antipope

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