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Clemens Setz

Schriftsteller und Übersetzer

22. 8. 2011 - 14:20

Satiren der Vergangenheit

Mit Clemens Setz auf "Gullivers Reisen". Teil 10: In der Akademie von Lagado. Eine Sommer-Mit-Lese-Aktion.

Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz

Ich erinnere mich, einmal in einem Fahrstuhl einen Mathematikstudenten sagen gehört zu haben: „Witzig, dieser Fahrstuhl ist nach-unten-dominant“. Gemeint war damit die Tendenz des Fahrstuhls, bevorzugt nach unten zu fahren als nach oben. Man stieg in ihn ein und drückte z.B. auf den Knopf für den 3. Stock. Dann fuhr man los und hielt im ersten Stock, wo jemand zustieg. Dieser drückte Erdgeschoß. Und man fuhr wieder hinunter. Mit etwas Pech konnte man so (möglicherweise) in einer Endlosschleife gefangen werden und niemals den 3. Stock erreichen. Der Student, der den sonderbaren Satz sagte, war übrigens ich. Ich hatte wohl einen Ohrwurm von irgendeinem mathematischen Begriff wie „diagonaldominante Matrix“ oder so. Und wer weiß, vielleicht war das ja eines der ersten Anzeichen dafür, dass ich aus dem Bezirk der Mathematik weggehen musste, wie ich es schließlich getan habe.

Gulliver im Land des akademischen Betriebs. Das Festland unterhalb der schwebenden Insel Laputa. Alles ist hier einem ständigen Abgleich herrschender Moden unterworfen. Die tiefe, konzentrierte Denkarbeit wird in Laputa erledigt, hier unten kümmert man sich mehr um Forschung, Experimente und Theorien. Die Menschen bauen ihre Häuser niemals fertig, denn während des Bauprojekts pflegt sich die Ansicht, wie ein Haus zu bauen sei, sehr häufig zu ändern. Sie laufen den ganzen Tag mit unzufriedenen Gesichtern herum.
Auch dem Haus des Lords Munodi, bei dem Gulliver zu Gast ist, droht ein baldiger Paradigmenwechsel:

„Schließlich erreichten wir das Haus, das wirklich ein vortreffliches Gebäude und nach den besten Regeln der Architektur errichtet war. Die Springbrunnen, Gärten, Spazierwege, Alleen und Haine waren alle mit sicherem Urteilsvermögen und Geschmack eingerichtet. (...) als kein Dritter zugegen war, sagte Seine Exzellenz mir mit sehr melancholischer Miene, er fürchte, er müsse seine Häuser in Stadt und Land niederreißen, um sie nach der gegenwärtigen Mode wiederaufzubauen.“

Wenn er das nicht tut, könnte er sich „des Hochmuts, des Einzelgängertums, der Künstelei, der Unwissenheit und des Eigensinns“ schuldig machen.

In der Akademie von Lagado, der Hauptstadt von Balnibarbi, ist ein Wissenschaftler damit beschäftigt, Sonnenstrahlen aus Gurken zu ziehen (hätte er geahnt, dass unsere Gegenwart sich inzwischen auch ernsthaft damit beschäftigt, zwar hauptsächlich auf halbwissenschaftlich-esoterischem Gebiete, aber immerhin), ein anderer versucht, menschliche Exkremente in die ursprüngliche Nahrung zurückzuverwandeln – vermutlich ein Echo aus der Vergangenheit, Franz Christian Paullini, der eine Hausapotheke verfasste, die allein auf der Verwendung von Exkrementen basiert:

Ein anderer Wissenschaftler in der Akademie von Lagado bläst einen Hund mit Luft auf, um ihn von Blähungen zu befreien – „Der Hund verendete auf der Stelle, und wir verließen den Doktor, während er versuchte, ihn durch das gleiche Verfahren wieder zum Leben zu erwecken“.
Philologen sind mit Plänen zur vollkommenen Abschaffung der Sprache beschäftigt, ein anderer verfertigt philosophische Schriften mithilfe eines Zufalls-Generators – auch er wurde inzwischen erfunden: In der „Fakultät der politischen Projektemacher“ sieht es noch zeitgenössischer und wirklicher aus: Ein Wissenschaftler betrachtet eine Regierung bzw. einen Senat als menschliches Wesen und gedenkt Ärzte auszubilden, die die verschiedenen körperlichen und geistigen Krankheiten des Staatswesens diagnostizieren können. Heute, da die Länder nicht mehr von Regierungen sondern von Firmen regiert werden, wurde genau dies unternommen:

Der Film ist eine psychologische Analyse der Persönlichkeit und des Verhaltens einer Körperschaft bzw. „juristischen Person“, wie es Firmen bekanntlich sind.

Und schließlich die Abteilung für politische Paranoia: „Ein anderer Professor zeigte mir ein großes Papier voll Anleitungen zur Aufdeckung von Komplotten und Verschwörungen gegen die Regierung“ – er tut es durch Analyse der Exkremente des Verdächtigten, nämlich indem er „sich nach Farbe, Geruch, Geschmack, Beschaffenheit und Unverdautheit oder fortgeschrittenem Zustand der Verdauung ein Urteil über ihre Gedanken und Absichten“ bildet.

„Ich erzählte ihm, dass im Königreich Tribnia, das von den Eingeborenen Langden genannt wird, wo ich mich auf meinen Reisen einige Zeit aufgehalten hatte, ein Großteil der Bevölkerung sozusagen völlig aus Spürhunden, Spähern, Spitzeln, Denunzianten, Staatsanwälten, Belastungszeugen besteht“.

Der menschliche Fortschritt: eine ständige Aufholjagd mit den bitteren Satiren, die in der Vergangenheit über ihn geschrieben wurden.