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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

21. 8. 2011 - 14:44

Der Gouvernantenstaat

Premierminister Cameron hat die Antwort auf die englischen Riots gefunden: Eine explizite Attacke auf die Menschenrechte.

PolitikerInnen genießen offenbar nicht den Luxus des On-and-off-Bloggers, ein paar Tage was zu verdauen, bevor sie schnellschießen. RichterInnen auch nicht, wenn ihnen ein Störenfried nach den anderen vorgesetzt wird, und die Öffentlichkeit nach zügiger Rache giert. Bish bash bosh, wie der Brite so schön sagt.

Und so kommt es, dass Großbritanniens Gefängnisse diese Woche 875 Gefangene mehr beherbergen als vor den Riots.

In einem Land, das mit knapp 87.000 Häftlingen rund anderthalb Promille seiner Gesamtbevölkerung hinter Gittern hält und trotz bis zu dreifach besetzter Einzelzellen nur mehr knapp 1500 Häftlinge von der Vollbesetzung aller seiner Gefängnisse entfernt ist, macht das potenziell den selben Unterschied wie – dem englischen Sprichwort entsprechend – der Strohhalm, der das Rückgrat des Kamels bricht. Zwei der verhafteten Jugendlichen wurden von ihren Mithäftlingen bereits krankenhausreif geschlagen.

Wissen tu ich als Online-Schmarotzer und Wiederverwerter das natürlich alles aus einem Verluste machenden Printmedium, nämlich dem Guardian, der sich in seiner Recherche der anhaltenden Murdoch-Affäre und jetzt in seiner relativen Besonnenheit nach den Riots der letzten Woche als ein für das Weiterbestehen eines annähernd demokratischen Systems in Großbritannien wahrhaft essentielles Medium herausgestellt hat.

Zertrümmerte Geschäfte auf der Camden High Street und Chalk Farm Road, Nordlondon

Daniela Bischof

Premierminister Cameron war letzte Woche schnell zur Stelle mit seinem Ausrufen eines „Kriegs gegen die Kultur der Gangs“ und seiner moralischen Empörung über verkommene Kids aus vaterlosen Haushalten (erstaunlicherweise aufgegriffen vom Labour-affinen New Statesman).

Die dringend notwendige, aber schwierige Aufgabe, zusammenzufassen, warum die Riots, wieweil sie nur eine Plünderei waren, doch auch ihre politische Bedeutung haben, übernahm keine geringere als Naomi Klein, zuerst in The Nation und dann als Wiederveröffentlichung, ebenfalls im Guardian
(Für einen Eindruck davon, wie leicht solche heiklen Analysen schon im Titel sprichwörtlich daneben gehen können, möge man den Hyperlink anklicken und sich die URL genau durchlesen).

Zertrümmerte Geschäfte in der Camden High Street/Chalk Farm Road, Nordlondon.

Daniela Bischof

Jenen Leuten, deren Geschäfte und Wohnungen den Riots zum Opfer fielen, werden solche Erklärungen wohl wenig Trost spenden.
Aber einer von ihnen - ein Sozialarbeiter, der selbst oberhalb der völlig ausgebrannten Carpetright-Filiale in Tottenham gewohnt hatte - sprach neulich in einem Radiointerview aus, was eigentlich auf der Hand liegen sollte: Nämlich, dass das massenhafte Wegsperren der Plünderer bei gleichzeitigem Entzug von Sozialleistungen die Gegensätze, die hinter diesem gewaltsamen Ausbruch stehen, bloß weiter verstärken wird.

Schon überhaupt, wenn Gemeindeverwaltungen, wie neulich die des Londoner Bezirks Wandsworth, zu den Gesetzen der Sippenhaftung zurückkehren, indem sie die Eltern von Jugendlichen, die an den Riots teilgenommen zu haben, aus ihren Sozialwohnungen delogieren.

Zertrümmerte Geschäfte in der Camden High Street/Chalk Farm Road, Nordlondon.

Daniela Bischof

Ich fühle mich grundsätzlich unwohl dabei, absurd klingende Gerichtsurteile zu beklagen, von denen man aus dritter Hand gehört hat. Das ist hierzulande üblicherweise das Revier der Boulevardpresse, in deren verzerrter Wahrnehmung eine pathologisch liberale RichterInnenschaft selbst noch den schlimmsten Schurken mit Glacéhandschuhen die kriminellen Häupter streichelt.

Aber auch da liefert mir der Guardian dankenswerterweise wieder einmal die (seit ihrer Veröffentlichung allerdings schon wieder überholten) harten Zahlen: 56 jener 80 Angeklagten, deren Fälle bis Freitag Früh bereits abgeschlossen waren, wurden zu unbedingter Haft verurteilt. Das sind 70 Prozent. Bei derselben Art von Vergehen wären es unter normalen Bedingungen nur 2 Prozent gewesen. Das Strafmaß ist darüber hinaus durchschnittlich 25 Prozent höher als sonst, nämlich 5,1 statt 4,1 Monate.

Zertrümmerte Geschäfte in der Camden High Street/Chalk Farm Road, Nordlondon.

Daniela Bischof

Darunter auch die jeweils vier Jahre, die zwei junge Männer dafür ausfassten, weil sie via Facebook zu einem „Smashdown“ aufriefen, den es nie geben sollte.

Die erwartete Welle an Berufungen gegen offensichtlich absurde Urteile der letzten Woche hat bereits eingesetzt: Siehe zum Beispiel die 24-jährige Ursula N. aus Stretford, die vom Crown Court in Manchester zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt wurde, weil sie ein Paar kurze Hosen annahm, das ihre Untermieterin von einer Plünderung nach Hause mitgebracht hatte. N. war selbst während der Riots im Bett gelegen. Nach ihrer Berufung muss sie „nur“ 75 Stunden unbezahlter Arbeit für die Allgemeinheit verrichten.

Zertrümmerte Geschäfte in der Camden High Street/Chalk Farm Road, Nordlondon

Daniela Bischof

In der Zwischenzeit fahren noch mehr weiße, an ihren verdunkelten Fensterluken erkennbare Gefängniswagen als sonst von Strafanstalt zu Strafanstalt und verschieben die Insassen quer über dies grüne und liebliche Land, während sich in den Sonntagszeitungen ein Duell der großen Diagnosen unter den (Ex-)Premierministern entspinnt:

In der rechten Ecke David Cameron, der heute im Rahmen der von einem sein Speer zückenden Kreuzritter illustrierten „Crusade“ des Sunday Express unter dem Motto „Reclaim our Streets“ noch einen Schritt weitergeht und die Reaktion auf die Riots mit der in letzter Zeit eingeschlafenen konservativen Kampagne gegen die Menschenrechte in Verbindung bringt: Human rights in my sights ist die schöne Überschrift zu einem Text, der „tiefe Probleme in unserer Gesellschaft“ folgendermaßen identifiziert: „ein Abnehmen des Verantwortungsgefühls, ein Ansteigen der Selbstsucht, ein wachsendes Gefühl, dass individuelle Rechte über alles andere gehen.“

Während sich eine Naomi Klein von ihrem gar nicht so unähnlich klingenden Ausgangspunkt zu einer Kritik an der Selbstsucht der Eliten vorarbeitet, geht Cameron ohne Umschweife zur Züchtigung der Jugend über: Lehrer sollten die Möglichkeit haben, "ihre SchülerInnen zu disziplinieren, wie es ihnen passt."

Aufräumarbeiten in der Camden High Street

Daniela Bischof

(Die jetzt wieder kursierenden Geschichten darüber, was Cameron und sein Studienkollegen aus dem elitären Bullingdon Club, wie der heutige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, sich selbst in jungen Jahren an besoffenen Verwüstungen der Pubs und Restaurants in und um Oxford zu Schulden kommen ließen, sind zwar lustig, aber kein Widerspruch zu traditionellen Verhaltensmustern, die finanzstarken jungen Gentlemen immer schon einiges an Diskretion zubilligten)

In der nicht gerade linken, höchstens mittelrechten Ecke widerspricht Tony Blair auf den Seiten des Observer dem Cameronschen Beklagen eines „moralischen Kollaps“ in Britannien. Solch „hochtrabendes Jammern“ würde das Land nur unnötig deprimieren und seine Reputation im Ausland beschädigen.

Selbstorganisierte Aufräumarbeiten auf der Camden High Street

Daniela Bischof

Selbstorganisierte Aufräumarbeiten auf der Camden High Street. Weiter oben: Nach den Riots auf der Camden High Street und der Chalk Farm Road in Nordlondon. Großen Dank an Daniela Bischof für die Fotos.

Blair ortet das Problem in einer spezifischen Gruppe entfremdeter Jugendlicher „außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams“, einem „Phänomen des späten 20. Jahrhunderts“, das in fast jeder entwickelten Gesellschaft zu finden sei und dem man nur mit gezielten Interventionen „family by family“ begegnen könne.

Die Schlussfolgerung ist also der Camerons nicht unähnlich. Erzieherisch, sonst nichts. Aufkehren der Elemente, die nicht in den Mainstream passen – kein Gedanke daran, ob der Mainstream selbst so moralisch sattelfest ist, wie er sich anmaßt zu behaupten.

Nächste Woche wird in London der Notting Hill Carnival stattfinden, dessen Geschichte in direktem Zusammenhang mit der Geschichte der Riots der Fünfziger bis Siebziger in jenem mittlerweile gentrifizierten Teil West-Londons steht. Es ist zu hoffen, dass der Carnival friedlich vonstatten geht, bevor die Vorstöße der autoritären Geister im Establishment noch weiter gehen.

Wenn etwa die konservative Abgeordnete Nadine Dorries auf der parteiinternen Website Conservative Home offen das Abschalten sozialer Netzwerke in Zeiten öffentlicher Unruhe verlangt, ist das nicht bloß ein närrisches Kuriosum.

Schließlich hat Innenministerin Theresa May bereits ein Treffen mit VertreterInnen von Facebook, Twitter und Blackberry verlangt. Und Facebook hat bereits zugesagt.

In ihrer Oppositionszeit haben die britischen Tories die Labour-Regierung gern für ihre Tendenz zum „Kindermädchenstaat“ („the nanny state“) kritisiert. Was jetzt heraufbeschworen wird, ist dagegen ein Gouvernantenstaat, der seine Unterschicht diszipliniert, wie es ihm passt. Eine gefährlich hybristische Dominanzfantasie, die bei gleichzeitigem Wachsen der sozialen Gegensätze nicht weniger, sondern nur mehr Gewalt erzeugen wird.