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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

23. 8. 2011 - 09:00

Sperma ist nicht alles

In "Fast genial" verpackt Benedict Wells die wahre Geschichte der "Samenbank der Genies" in ein literarisches Roadmovie über Identität, Zufall und Selbstbestimmung.

Eine musterhafte genetische Elite war das Ziel. Der neue Mensch sollte klüger, stärker und gesünder als der Durchschnitt sein, seine Wiege die "Samenbank der Genies".

Was nach Lebensborn und Eugenik im Nationalsozialismus klingt, wurde Mitte der Siebziger von einem exzentrischen US-Multimillionär wieder in Angriff genommen.

Robert K. Graham in der Samenbank der Genies

eric myer

Robert K. Graham, 1906 - 1997

In einem unterirdischen Vorratsbunker auf einer Ranch bei San Diego gründete Robert K. Graham die "Samenbank der Genies". Fast 20 Jahre lang versuchte er dem "genetischen Verfall der Menschheit" Einhalt zu gebieten, indem er das Sperma hochintelligenter Wissenschaftler, Topathleten und erfolgreicher Geschäftsmänner sammelte und damit vielversprechende junge Frauen befruchtete. Auf diese Weise wurden bis Ende der Neunziger mehr als 200 Kinder gezeugt.

Eine BBC-Horizon-Doku aus dem Jahr 2006 zeigt, was aus den Retortenbabies geworden ist.

Diese unglaubliche aber wahre Episode der jüngeren amerikanischen Genforschung hat der Münchner Autor Benedict Wells zum Ausgangspunkt seines neuen Romans gemacht. "Fast genial" erzählt die Geschichte von einem dieser Kinder.

Versager oder Hochbegabter

Francis Dean ist allerdings ein durchwegs fiktionaler Charakter. Der knapp 18-Jährige lebt mit seiner manisch-depressiven Mutter in einer heruntergekommenen Wohnwagensiedlung in einem Provinznest an der Ostküste. Nichtsahnend von seiner kuriosen Abstammung fürchtet er schon, für immer dort hängen zu bleiben.

Tatsächlich sind Francis' Zukunftsperspektiven kurz vor dem High-School-Abschluss alles andere als rosig: Die Mutter liegt in der psychiatrischen Klinik, für die Schule, die ihm früher so leicht gefallen ist, hat er keinen Kopf mehr und von College ist sowieso keine Rede. Als "potentieller Mitarbeiter bei Wendy's in der Spätschicht" würde er bestimmt niemals aus Claymont rauskommen.

Trotzdem spürt Francis, dass noch mehr in ihm stecken muss. Als er durch einen eher unglücklichen Zufall erfährt, dass er das Kind eines Harvard-Absolventen mit einem IQ von 170 ist, fühlt er sich wie neu geboren.

Mit seinem nerdigen Freund Grover und der suizidgefährdeten Anne-May, die er aus der Krankenstation, an der seine Mutter liegt, entführt, fährt er quer durch die USA, um seinen Vater zu finden.

Literarisches Roadmovie

Portrait Schriftsteller Benedict Wells

Foto: Copyright © Roger Eberhard

Benedict Wells wurde 1984 in München geboren und ist der jüngste Autor im Diogenes Verlag. Seinen ersten Roman "Spinner" (erschienen 2010) hat er mit 19 geschrieben. "Fast genial" ist sein drittes Buch.

"Fast genial" entpuppt sich wie Benedict Wells' viel beachtetes Debüt "Becks letzter Sommer" (2008) als literarisches Roadmovie. Der 28-jährige Schriftsteller ist für seinen Roman selbst monatelang durch die USA gereist. Man merkt es an den Beschreibungen der billigen Motels und Bars, in denen die Gruppe absteigt und an ihren mit der Landschaft wechselnden Stimmungslagen on the road.

Die "Samenbank der Genies" ist dabei quasi der Highway durch die Geschichte und die historischen Fakten Wegweiser, an denen sich Wells allerdings nur grob orientiert.

Andere hätten sich vielleicht stärker auf den Stoff konzentriert. Hätten geschildert, wie der schrullige Graham, der im Buch Monroe heißt, auf Wissenschaftskongressen Intelligenzbestien rekrutiert, sie für einen schnellen Handjob auf ihr Hotelbadezimmer schickt und den Ertrag dann in seiner mobilen Samensammelbox einfriert.

US-Journalist David Plotz hat für "The Genius Factory" die wahre Geschichte der "Samenbank der Genies" recherchiert. Dem Buch ist eine Serie im Slate-Magazin vorangegangen.

Grahams tatkräftigem Mitarbeiterstab, einem Hundezüchter, einer Malerin und dem Genetiker Hermann J. Muller, hätte Wells auch keine neue Vergangenheit andichten müssen. Um die brachliegende Skurrilität dieser realen Figuren ist es fast ein bisschen schade.

DNA-Stränge und Handlungsstränge

Der Schriftsteller wollte aber einfach eine ganz andere Geschichte erzählen. Die interessanten Dinge spielen sich bei ihm abseits der Fahrbahn ab: Francis' Liebesgeschichte mit Anne-May, die Freundschaft zu seinem ungleichen High-School-Kumpel Grover oder die Begegnung mit Alistair, einem anderen Kind aus Monroes Elitezuchtstall.

Buchcover, "Fast genial" von Benedict Wells

Diogenes Verlag

"Fast genial" erscheint im September im Diogenes Verlag.

Über Francis' Identitätssuche und immer wiederkehrende Rückblicke in dessen Kindheit verhandelt Wells die ethisch-philosophische Problematik von biologischer Determination versus Selbstbestimmung mit sympathischer Leichtigkeit.

Es geht ihm um die Frage, inwieweit jeder für sein Leben selbst verantwortlich ist, und was man daraus machen kann, ohne sich von den gegebenen Umständen eine scheinbar unumkehrbare Richtung diktieren zu lassen.

Nach zahlreichen souverän geschriebenen Wendungen, die an dieser Stelle besser nicht verraten werden, läuft alles auf einen rasanten Showdown in Las Vegas hinaus. Francis nimmt sein Leben endlich selbst in die Hand und setzt erst recht alles auf eine Karte.

Warum auch nicht. Schließlich "hängt so viel mehr vom Zufall ab, als wir wahrhaben wollen."