Erstellt am: 20. 8. 2011 - 15:20 Uhr
Gamescom: Tumult für Teenage-Boys
Kollegin Nadja Igler und ich fahren nun schon einige Sommer lang auf gemeinsame Arbeitsreise zu den deutschen Videospielmessen. Nur zwei Jahre lang haben die neue Gamescom (Köln) und die alte Games
Convention (Leipzig) Seite an Seite existiert. Heuer hat die Messe Leipzig aufgrund fehlender Standbuchungen und schwindendem Interesse klein beigeben müssen.
Das forsche Motto der Gamescom seit ihrem Start 2009 lautete von Anfang an: Höher, schneller, weiter. Das langsame Wachstum und die mäßige internationale Beachtung der Games Convention - da waren sich die Vertreter der Videospielindustrie einig - seien nicht länger konkurrenzfähig. Deshalb: Schulterschluss mit den USA in Sachen Entertainment und Aufmerksamkeit um jeden Preis. Wie wirkt sich dieses Konzept im dritten Jahr der mittlerweile wichtigsten europäischen und zahlenmäßig weltweit größten Games-Messe in der Praxis aus? - Ein Analysegespräch auf der Heimreise nach Wien.
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ORF.at/Nadja Igler
Nadja: Es ist wie immer: Am ersten Besuchertag auf der Gamescom schieben sich die Massen, vor allem Männer, viele sehr jung und nicht immer ganz Herr über all ihre Extremitäten, Sinne und mitunter auch Körperausdünstungen, durch die Messehallen. Frauen sind, auch wie immer, in der Unterzahl, und entweder schmückendes Beiwerk oder leicht bekleidete Hostessen, die mit nackter Haut Spiele anpreisen. Die niedrige Frauenquote hat zwar den Vorteil, dass ich vor dem WC nie warten muss, doch der eigentliche Umstand ist jedes Jahr aufs Neue deprimierend. Als Ausnahme, die die Regel bestätigt, fühle ich mich auf der Gamescom eigentlich nicht repräsentiert. Wenn die Industrie den Anspruch erhebt, ernst genommen zu werden, dann müsste sie sich auch entsprechend benehmen und ihr Verhalten ändern.
Robert: Ernüchternd ist, dass offenbar genau diese Form der Messe weiterhin gewollt ist. Besser gesagt: Die Industrie will weder ihr Verhalten ändern noch wirklich erwachsen werden. Das Geschäft wird ohnehin professionell abgewickelt und alles andere ist nebensächlich. Wen kümmert es denn auf Events wie der Gamescom wirklich, ob Videospiele nun Kulturgut sind oder einem wie auch immer definierten Anspruch der Seriosität genügen? Genügend männliche Teenager, die die Messehallen überquellen lassen, sind ausreichend fürs Erfolgsimage. Den Rest erledigt die Presse, die oft ebenso euphorisch und unterhinterfragt die gebotenen Inhalte der Industrie aufnimmt, wie die Messebesucher.
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ORF.at/Nadja Igler
Nadja: Oft überschneiden sich diese beiden Gruppen auch sehr stark. Dieses Jahr herrschte bereits am Journalisten- und Fachbesuchertag reges Gedränge und bei beliebten Spielen musste man oft stundenlang warten - wie an einem normalen Besuchertag. VIP-Pässe halfen nicht, weil offenbar zu viele von ihnen ausgestellt wurden. Die Aussteller mussten Ausweiskontrollen einführen, weil zu viele Jugendliche auf der Messe waren. Die an Besuchertagen verpflichtende Ausgabe der bunten Bändchen war für diesen Tag nicht vorgesehen. Offenbar ging es darum, mit Gewinnspielen und kostengünstigen Fachbesuchertickets einen besucherschwachen Tag künstlich aufzupeppen. Das wurde auch von Industrievertretern kritisiert.
Robert: Der Fachbesuchertag wirkt ja mittlerweile mehr wie eine Generalprobe für die darauffolgenden Tage und weniger wie ein tatsächlicher Informationstag. Die großen Pressekonferenzen von EA, Microsoft und Sony finden ja seit ein paar Jahren immer schon am Tag davor, am Dienstag, statt. Die Industrie scheint diese Dynamik aber zu begrüßen, weil sie das perfekte Aufputschmittel für Besucher als auch Fachbesucher ist und damit auch jene, die nicht vor Ort sind, eine ganze Woche lang in erhöhte Aufmerksamkeit versetzen. Die meisten Journalisten reisen schon am Wochenanfang an, wo doch die eigentliche Besuchermesse erst am Wochenende stattfindet.
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ORF.at/Nadja Igler
Nadja: Am Donnerstag, dem ersten Besuchertag, wurde es dieses Mal vom Andrang her noch intensiver als in den Jahren davor. Vor Messebeginn drängten sich bereits Menschenmassen vor den Eingängen, binnen Minuten gab es Warteschlangen vor Spielen wie "Battlefield 3" oder "Diablo III". Kurz darauf poppten auch schon die ersten Agenturmeldungen auf, die uns mitteilten, dass der Andrang heuer besonders groß sei und die 250.000 Besucher vom letzten Jahr leicht übertroffen würden. Ich frage mich: Wozu?
Robert: Weil sich mit dicht gedrängten, euphorischen Menschen, die viel kostenlose Coffein-Brause bekommen, bessere Videos drehen und Fotos machen lassen als mit bloß gut gefüllten Hallen und unauffälligen Besucher/innen?
Nadja: Die Jugendlichen scheinen das Gedränge immerhin geduldig zu ertragen und das Verschmelzen mit ihrer Peer Group zu genießen - doch selbst sie murrten. Ältere Besucher, so nicht stoische Bewacher in Form von Eltern oder Großeltern, waren sehr befremdet ob der Massen. Auch kaum ein Vertreter der Industrie wollte nach einem kurzen Spaziergang über das Messegelände selbiges noch ein zweites Mal durchqueren.
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ORF.at/Nadja Igler
Mehr ORF.at-Stories zur Spielestadt Köln 2011:
- "Onlinespiele als Service" (Nadja Igler)
- "Die ungleichen Entwickler" (Robert Glashüttner)
- "Spielebranche setzt auf Gratiskultur" (Nadja Igler)
- "Alternative Spielformen" (Robert Glashüttner)
Robert: Das bloße Warten ist so gesehen eigentlich der subversivste Akt, den man als Besucher auf einer Veranstaltung wie der Gamescom machen kann. Man setzt sich damit quasi dem Diktat der lauten Rastlosigkeit entgegen. Stehen und warten anstatt sich von Halsbändern und aufblasbaren Schwertern bewerfen zu lassen und hässliche Taschen mit sich herumzutragen. Und nach zwei bis drei Stunden ruhig seine 15 Minuten lang spielen. Das finde ich eigentlich ganz gut.
Nadja: Ich könnte schwören, jeden Abend vergleichen die Produktmanager die Wartezeiten bei ihren Spielen und wer die kürzeste hat, muss eine Runde zahlen. Oder der, der mit seinem Gebrüll die Soundkulisse vom Stand nebenan nicht übertreffen konnte. Anders ist das nicht erklärbar. Natürlich ist es grundsätzlich gut, wenn eine Messe viele Besucher hat, es steigert die Aufmerksamkeit für das Thema und der Veranstalter verdient sein Geld. Aber statt die mittlerweile facettenreiche Demographie der Gamer widerzuspiegeln, bedient man sich an dem alten Klischee des jungen, männlichen Teenage-Boy-Spielers und alles, was damit im Zusammenhang steht. Das Wesen von kommerziellen Games-Messen ist seit über 15 Jahren quasi unverändert.
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ORF.at/Nadja Igler
Robert: Das, was auf den Entwicklermessen gut funktioniert, sollte eigentlich auch für den Konsumenten-Bereich umgesetzt werden können. Da gäbe es dann die üblichen Hallen mit den Battlefields und Guild Wars, aber eben auch welche mit Indie- oder Serious-Games. Aber in diesen Bereichen gibt es eben niemanden, der die Standmiete bezahlen kann.
Nadja: Die Gamescom leidet ja nicht als einzige unter dieser Einseitigkeit, sie hat es nur perfektioniert. Versuche, Spielemessen neu auszurichten, wie damals die E3 zu einer reinen Businessmesse, scheiterten am Widerstand der Branche - sie meuterte, weil die Messe mit den Geschäftsgesprächen im Hinterzimmer keinen entsprechenden Entertainment-Faktor geboten hätte. Heute ist die E3 wieder so wie früher: laut, überfüllt und voll mit halbnackten Frauen, schwerem Militärgerät und schnellen Autos.
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ORF.at/Nadja Igler
Robert: Eine Bekannte, die auch in Köln war und diesen Trubel der Spielemessen noch nicht kannte, war verblüfft über die klare Geschlechterzuordnung. Die Tatsache, dass sie alleine durch die Messenhallen geht - ohne Begleitung oder Hostess zu sein - hat manche Burschen ganz aus dem Konzept gebracht.
Nadja: Wo sind sie denn, die Angebote für Frauen, der angeblich so heiß umkämpften Zielgruppe? Oder die für Familienväter, die sich mit Kindern statt Games die Nächte um die Ohren schlagen - Studien zufolge ist die Mehrheit der Gamer über 30. Die Industrie steckt in ihren eigenen Stereotypen fest, während sich ihre Zielgruppen bereits weiter entwickelt haben.
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ORF.at/Nadja Igler
Robert: Eine Möglichkeit wäre eine eigene Halle für Erwachsene, die mit Bedacht kuratiert wird und einen bewussten Gegenakzent zum üblichen Getöse setzt. Zu Beginn hätte diese Halle durch die neue, ungewohnte Ausrichtung wahrscheinlich weniger Zuspruch und wäre nach heutigen Maßstäben nicht erfolgreich. Auch die Industrie würde sich vermutlich mehrheitlich von Anfang an dagegen stemmen, weil man keinen schnellen Imageverlust oder -wechsel riskieren möchte. Aber es wäre zumindest ein Ansatz, auf dem man aufbauen könnte.
Nadja: Wenn es der Games-Industrie tatsächlich wichtig ist, dass sie "erwachsen" wird und auf Dauer außerhalb der Branche ernst genommen werden möchte, wird sie langfristig an solchen Änderungen nicht vorbeikommen. Es sollte ihre Aufgabe sein, sich der Altersverteilung und den Interessen ihrer Spieler/innen entsprechend zu verhalten, zu diversifizieren und entsprechende Angebote zu gestalten.
UPDATE:
Am Samstag, dem traditionell besucherstärksten Messetag, hat zum ersten Mal in der Geschichte der Gamescom wegen des hohen Andrangs der Besucherstrom geregelt werden müssen. Kotaku hat dazu mehr.