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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

17. 8. 2011 - 23:00

Journal 2011. Eintrag 155.

Kampf der Fluch-oder-Segen-Zuspitzung, Plädoyer für den Reflexions-Journalismus.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit ein paar Zeilen Hass auf die Billig- und Widerwärtigkeit des Fluch-oder-Segen-Journalismus.

Ich habe ein Weilchen überlegt, ob ich das, was ich heute hier sagen will, anhand des praktischen, auf der Hand liegenden, tagesaktuellen, ideal geeigneten Beispiels tun soll.
Es gibt nämlich einen Haken. Das anzuführende Negativ-Beispiel ist in einem Medium passiert, das genau diesen Fehler sonst nie macht; das ist dann natürlich ungerecht und kann leicht in falsche Hälse geraten. Ich ersuche also alle das ordentlich mitzubedenken.

Also, heute im Falter eine Covergeschichte über Netz-Anonymität. Sowieso ein schwieriges, komplexes Thema - und da der Falter durch die Schuld seines Analog-Abts Thurnher eine nur teilweise berechtigte verheerende Reputation in Sachen neue Medien/Web etc. hat, muss man Schlimmes befürchten. Glücklicherweise verlässt der Chef aber die hölzerne Mediamil-Komplex-Kanzel in dieser Ausgabe nicht und lässt die Jungen ran, die die's können.

Der Anlass: die 'Netz und Anonymität'-Debatte

Und so liefert Stefan Apfl auf zwei Seiten ein aktuelles Sitten- und Analyse-Bild der Debatte: Ein wirklich Neugieriger und Interessierter, der nicht nur Aussagen und Meinungen anhäuft, sondern sie und die vorliegenden Fakten auch zu verknüpfen versteht. Nicht einmal die von Thurnher aus kindlichem Bestemm als Illustration befohlenen Schenkelklopfer-Comix können dem Text etwas anhaben.

Vor eineinhalb Wochen hat ein anderes, ebenso wichtiges Print-Medium, eine Wochenend-Beilage dasselbe Thema gecovert. Allerdings nicht, wie sonst üblich, mittels Essay oder einer fast schon literarischen Annäherung, sondern über ein verschämt inszeniertes Pro-und-Contra. Beide Texte stammen von befreundeten Kollegen, die ich über alles schätze. Nicht jedoch als Experten in punkto Netz. Und das nicht nur, weil sie keine, Digital Nativen sondern, ihrem Alter entsprechend, digitale Naive sind, sondern vor allem, weil die Beschäftigung mit dem Thema aus dem persönlichen Umgang damit entstanden ist und damit seltsam emotionale Wellen schlägt; Wellen, die - kämen sie von einem Eingeborenen dieser Welt - surfbar wären, so aber nur Gänsehäufel-Qualität haben.

Die Angst vor Komplexität öffnet die Fluch-oder-Segen-Falle

Mit anderen Worten: Die beiden ersten Seiten dieser Wochenend-Beilage hätten deutlich besser genützt werden können.
Da hat eindeutig eine der übelsten Fallen (gegen die keiner gefeit ist, ich weiß wovon ich rede) zugeschlagen, die der aktuelle Journalismus bietet: der Fluch-oder-Segen-Zugang.

Immer wenn die neue, wilde, überraschende, in ihren Entwicklungen unheimliche globalisierte und gleichzeitig marginalisierte, hochpostmoderne Welt dem Journalismus ein Thema, ein Topic, eine Geschichte entgegenschleudert, das/die sich nicht zielsicher einordnen lässt, für die es keine bereits erprobten Tools oder gar einen echten Experten gibt, greift man zu dieser Lösung. Einer Notlösung, einer widerlichen und aalglatten, der man immer, wo man sie sieht, ordentlich eine reinsemmeln muss. Die Fluch-oder-Segen-Lösung. Das bedeutet, dass man sich dem Thema zwei (meist sehr banale) Positionen zuordnet und dann jemanden sucht, der die verkörpert, betextet und einem damit die Arbeit der tatsächlichen Beschäftigung abnimmt.

Auslagerung an expertische Polarisierungs-Hochschrauber

Diese Experten und Protagonisten sollen überspitzen und können dabei ruhig extrem sein, hebt sich eh irgendwie auf - so die landläufige Ansicht dazu.

Das Problem dabei ist nur: Gar nix hebt sich auf.
Die Fluch-oder-Segen-Experten kommen (wir leben nämlich in Österreich) aus einem kleinen Pool und haben sich schon eingestellt und spezialisiert; drehen also bewusst an der Polarisierungs-Schraube. (Ich spreche im Übrigen längst nicht mehr vom Ausgangs-Beispiel, das all diese professionellen Abartigkeiten nicht im Entferntesten beinhaltet.)
Und so ergibt plus eins und minus eins nicht null, wie es beabsichtigt war (im Nullsummenspiel Journalismus), sondern summiert sich; und zwar in Richtung Ärgernis.

Durch die bewusste Zuspitzung der Ränder und die ebenso bewusste Außerachtlassung der Zentrale geht nämlich der Sinn verloren. Und ja, Themen journalistisch aufzubereiten hat einen Sinn. Mehr Wissen und Klarheit zu bringen, durch Informationen, weiterführende Gedanken und wichtige Verknüpfungen, also dem was ich reflektiven Journalismus nennen möchte.

Sich an "Sagern" aufgeilen? Drauf geschissen...

Dass der junge Redakteur das im Blatt des Fluch-Fuchtlers kann, belegt dass es geht. Herr Apfl hat sich nämlich auch in seiner Geschichte nicht an den Experten-Polen aufgegeilt, versucht aus Peter Griding noch einen "Sager" rauszukitzeln oder einem anonymen Anonymus eine verbale Drohgebärde zu entlocken. Geschenkt. Und auch: drauf geschissen.
Denn genau diese vom Mainstream und der Nomenklatura gepflogene Attitüde, das erbarmungslose Hochpitchen von "geilen" Stories, hindert im weiten Land der Themen-Unsicherheit auch noch die letzten Mutigen an der Reflexion; und daran genau die einfließen zu lassen in ihre Texte. Texte, die ohne diese Zutat nur seelenlose Fact-Boxen sind - oder eben Fluch-oder-Segen-Zündelstätten.

Selbst im Falter macht man es seinen Jungen nicht leicht. In der Online-Schlagzeile zum Apfl-Text steht tatsächlich der kreuzdumme Satz "Soll die Anonymität im Netz aufgehoben werden? Pros und Contras." Obwohl es eben genau das nicht ist: die Pro-und-Contra-, die Fluch-oder-Segen-Scheiße. So tief steckt dieser Mist in den Automatismen des Journalismus drin. So fest stecken die Köpfe im Pro-und-Contra-Dung.

Wo bleibt der natürliche Kotz-Reflex, wenn man ihn braucht?

Im Übrigen bietet der Text keine Anleitung zur Meinungsbildung, im Gegenteil. Im Übrigen habe ich zum Thema Anonymität im Netz gerade keine gesicherte Meinung. Ich habe das in den letzten Jahren mehrmals hin und her gewälzt, war einmal auf der einen, stand dann auf der anderen Seite, habe teilweise strategisch Position bezogen, dann wieder allzu selbstrefentiell agiert (das aber immerhin nie in einem 'Experten'-Kommentar, soviel Selbstachtung muss sein). Es ist eines der Themen, bei denen ich (fast) alle Motive (fast) aller Beteiligter nachvollziehen kann; und auch eines, bei dem ich keine alle befriedigende Perspektive sehe.
Andererseits: Leicht möglich, dass die eine oder andere eben oder demnächst angestoßene Neuentwicklung die aktuellen Erwägungen ohnehin zu Makulatur macht.

Deshalb ist es für mich so auffällig. Gerade bei einem Thema, zu dem es kein Patent-Rezept und keine apodiktische Dogmen-Politik gibt oder geben kann/soll. Wie mir vor dem Fluch-oder-Segen-Zugang graust.

Eigentlich müsste sich jeder, der sich irgendwann einmal selber einen journalistischen Eid geschworen hat mitzuhelfen die Welt, die Umgebung, einen Detailbereich durch intensive Berichterstattung, kluge Verknüpfung und die Blickwinkel bereichernden Analysen zu verbessern, davor grausen. Eigentlich müsste sich jeder Journalist per ganz natürlichem Reflex übergeben müssen, wenn das Fluch-oder-Segen-Ding den Raum betritt. Eigentlich.