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Clemens Setz

Schriftsteller und Übersetzer

16. 8. 2011 - 15:14

Die Wachküsser in der virtuellen Welt: Die Climenole

Mit Clemens Setz auf "Gullivers Reisen". Teil 9: Der Lieblingsabschnitt. Eine Sommer-Mit-Lese-Aktion.

Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz

Endlich, mein Lieblingsabschnitt des ganzen Buches: Die Reise zur schwebenden Insel Laputa. Gerade mal zehn Tage war er zuhause, schon zieht es Gulliver wieder zur See. An Bord der „Guten Hoffnung“, dessen Kapitän er kennt, bricht er zu einer Reise nach Ostindien auf. Piraten verhindern die Weiterreise, Gulliver wird auf einem kleinen Kanu ausgesetzt. Er kommt zu einer Insel und verbringt dort die Nacht. Am nächsten Tag macht er eine außergewöhnliche Beobachtung, vermutlich etwas von dieser Art:

Wie das UFO im Film Independence Day, wie ein großer frei schwebender Kronleuchter im Himmel, fliegt eine Insel über ihn hinweg. Auf ihr kann er Menschen ausmachen, die sich bewegen und ihm wohl auch Zeichen geben, er winkt hinauf und wird nach einiger Zeit mit an einer Vorrichtung nach oben befördert.

Die Bewohner von Laputa sind besonders seltsame Geschöpfe. Sie sind in einer scheinbar ewigen, äußerst konzentrierten Versenkung und Meditation über schwierige und abstrakte Problemstellungen gefangen, ein Auge zeigt immer gen Himmel, das andere nach innen. In ihrer Gegenwart existieren allein Musikinstrumente und eine besondere, faszinierende Kaste von Lakaien, „die luftgefüllte Blasen, die wie Dreschflegel am Ende eines kurzen Stocks befestigt waren, in den Händen hielten. In jeder Blase befand sich eine Menge getrockneter Erbsen oder kleiner Kieselsteine (wie man mir später sagte). Mit diesen Blasen versetzten sie denen, die in ihrer Nähe standen, von Zeit zu Zeit einen Klaps auf Mund und Ohren, ein Brauch, von dessen Sinn ich mir damals noch keine Vorstellung machen konnte.“

Diese Aufwecker oder „Climenole“ versetzen den mit intensivem Nachdenken beschäftigten Menschen von Laputa, die von alleine nicht mehr bemerken würden, dass man sie anspricht, sanfte oder weniger sanfte Berührungen mit dem rasselnden Ballon – zum Zeichen dafür, dass Kommunikation betrieben werden muss.

Wie wunderbar ist diese Erfindung der Climenole. Man möchte sie am liebsten aus dem Roman reißen. Die Laputier, die sich ausschließlich in einer Welt der mathematisch-musikalischen Glasperlenspiele bewegen (sogar das Essen ist beängstigend geometrisch: „Enten, die in Form von Geigen zubereitet waren, Würste und Pressköpfe, die Flöten und Oboen glichen, und eine Kalbsbrust in Gestalt einer Harfe“), sind auf die Climenole angewiesen. Ohne sie wäre das Überleben kaum möglich. Die Geistesabwesenheit der Laputier geht so weit, dass sie sogar die Sphärenmusik zu hören und spielen vermögen, die Gulliver allerdings – nach einem dreistündigen Vortrag – „von dem Lärm ganz betäubt“ zurücklässt. Ihre Verachtung für die euklidische Geometrie lässt sie ihre Häuser auf nicht-euklidische Weise bauen, was zur Folge hat, dass man sich nur schwer in ihnen aufhalten kann. Viele Gelehrte, die sich mit dem Verlauf von Kometen oder anderen abstrakten Problemen beschäftigen, sind so tief in ihrer Gedankenwelt verloren, dass ihre Frau direkt neben ihnen mit ihrem Liebhaber schlafen kann – sie merken nichts. (Überhaupt ziehen Frauen sogar die Gesellschaft von gewalttätigen Nicht-Laputiern der ihrer laputischen Ehemänner vor: „Da fand man sie in einer zweifelhaften Kneipe, ganz in Lumpen, da sie ihre Kleider verpfändet hatte, um einen alten, hässlichen Bedienten zu ernähren, der sie jeden Tag prügelte und aus dessen Gesellschaft sie sehr gegen ihren Willen weggeholt wurde. Obgleich ihr Gemahl sie mit aller nur möglichen Güte und ohne den geringsten Vorwurf aufnahm, bewerkstelligte sie es bald danach, sich mit allen ihren Juwelen wieder zu demselben Galan hinunterzustehlen und seitdem hat man nichts mehr von ihr gehört.“)

Wenn es ein Element aus dem Roman verdient hat, zu einem kompakten Sinnbild zusammengedreht zu werden und auf die heutige Zeit bezogen zu werden, dann die merkwürdige und bewundernswerte Kaste der Climenole, welche die sich in Grund und Boden denkenden Männer von Laputa von Zeit zu Zeit an Ohr und Mund mit ihren gefüllten Ballonen berühren. Wie gern wäre ich einer von ihnen.

Was geschieht, wenn der Dienst der Climenole nicht mehr eingreifen kann, erzählt das dritte Kapitel: Aufständische Städte auf dem Erdboden hinterfragen und bedrohen die Autorität des Königs von Laputa in regelmäßigen Abständen. Ihre Forderungen sind ungeheuerlich: „Abhilfe für alle ihre Beschwerden, weitgehende Freiheiten, die Wahl ihres eigenen Statthalters“. Seiner Majestät Standardreaktion auf alle Revolutionsbemühungen unten auf der Erde ist dasselbe, wie es auch von Mr. Burns bei den Simpsons angestrebt wird: das Aussperren des Sonnenlichts.

Still: Simpsons

20th Century Fox

„Das erste und mildeste Verfahren besteht darin, die Insel über einer solchen Stadt und den umliegenden Ländereien schweben zu lassen, wodurch er den Einwohnern die Wohltat des Sonnenscheins und des Regens vorenthalten und sie folglich mit Hungersnot und Krankheiten bedrücken kann“.

gullivers reisen

insel verlag

Jonathan Swift: "Gullivers Reisen", in einer Übersetzung von Franz Kottenkamp, erschienen im Insel Taschenbuch

Andere Methoden, die dem König zur Verfügung stehen, sind das Bewerfen der aufbegehrenden Stadt mit Steinen oder das Herbsenken der ganzen Insel, sodass die Stadt von ihr zerquetscht wird.

„Und der König lässt, selbst wenn er aufs heftigste gereizt und fest entschlossen ist, eine Stadt zu Schutt zu zermalmen, die Insel sehr sachte herabsinken, angeblich aus Mitgefühl mit seinem Volk, in Wirklichkeit jedoch aus Besorgnis, den adamantenen Boden [der Insel] zu zerbrechen.“

Es bedürfte schon eines wolkenkratzerhohen Climenolen (oder Climenol? Swift verrät uns die korrekte Einzahl des Wortes leider nicht), der dem König in der Höhe einen gewaltigen Wachkuss-Schlag mit seinem Instrument versetzt, damit er das Geschrei der unzufriedenen Erdenbevölkerung zu hören vermag, zumindest für einen kurzen Augenblick, bevor er wieder in die Betrachtung irgendeines astronomischen Problems oder einer schwierigen mathematischen Denkaufgabe zurücksinken darf.