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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

16. 8. 2011 - 13:14

Kein Aufstand der „verwöhnten Sushi-Esser“

In Israel ist aus einem Zeltlager als Protest gegen hohe Mietpreise eine umfassende Bewegung für soziale Gerechtigkeit geworden. Der Schriftsteller Doron Rabinovici mit einer Einschätzung der Proteste.

„Das Volk will soziale Gerechtigkeit“, skandierten vor eineinhalb Wochen 300.000 Menschen in Tel Aviv, die sich bei der größten Demonstration, die das Land je gesehen hatte, einfanden. Was als Demonstration gegen zu hohe Mietpreise begann, wurde zu einer umfassenden Bewegung für soziale Gerechtigkeit, die ein besseres Gesundheitswesen genauso fordert wie bessere Bildung oder eine Eindämmung des 'Raubtierkapitalismus', die sich auch massiv gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu richtet.

Vergangenen Samstag haben erneut Proteste stattgefunden, allerdings nicht in den zwei größten Städten des Landes, Tel Aviv und Jerusalem, sondern in Haifa und Beersheva. Damit gehen die Proteste nun über eine junge, urbane Mittelschicht in Tel Aviv hinaus und umfassen auch ärmere Schichten, Menschen außerhalb der großen Städte und AraberInnen. Damit muss sich nun auch die israelische Regierung mit den Protesten auseinandersetzen, die sie vorher als „verwöhnte Sushi-Esser“ mit „Luxusproblemen“ abgetan hatten. Heute wird in einer Sondersitzung des israelischen Parlaments über soziale Fragen beraten.

Demonstrantin in Israel mit Schild: "Justice for all"

EPA/JIM HOLLANDER

Ich habe Doron Rabinovici, österreichischen Schriftsteller mit israelischen Wurzeln, um eine Einschätzung der Lage gebeten:

FM4: Rund um die Proteste in Israel wurde immer kolportiert, dass es sehr erstaunlich sei, dass in Israel so viele Menschen auf die Straße gehen. Warum ist das so erstaunlich?

Doron Rabinovici: Große Demonstrationen haben in Israel und Tel Aviv durchaus immer stattgefunden. Aber seit dem Ende des Friedensprozesses hatte sich eine große politische Frustration und Lethargie durchgesetzt. Die Leute waren von einer Hoffnungslosigkeit erfasst worden.

Gleichzeitig ist Tel Aviv eine Stadt, die pulsiert, die lebt, wo es zum Beispiel eine Gay Parade oder Radfahrdemos gibt. Ein interessante Stadt, die immer wach ist, mit einem Zentrum von Jugendkultur rund um die Sheinkin-Straße. Man kann schon sagen, dass man sich in Tel Aviv so etwas erwarten konnte. Aber aufgrund des nationalen Konfliktes und dieses Stillstandes gab es wenig, wofür viele Leute auf die Straße gingen. Tel Aviv wurde außerdem gebrandmarkt als eine Art Blasenerscheinung, als exterritoriales Gebiet, das nicht wirklich mit den Konflikten im restlichen Land zu tun hat. Deswegen diese große Verwunderung.

Und es ist sehr interessant, wie die Reaktion in der gesamten israelischen Gesellschaft darauf ist. Von sehr vielen Seiten, auch von solchen, von denen es nicht zu erwarten war, gibt es so eine paternalistische Einstellung: "Na, unsere Jungen sind aber großartig", also irgendwie ein Stolz. Das hat irgendwie mit der jüdischen Familienstruktur zu tun, was von der Jugend kommt wird zunächst familiär-freundlich angesehen. Lustig auch die Reaktion aus den arabischen Ländern: Al Jazeera spricht vom "Israelischen Sommer" und man sieht eine Parallele dazu, was beim Arabischen Frühling passiert ist.

Aber wirklich erstaunlich ist, mit welcher Kraft das nun bahnbricht und über Tel Aviv hinausgeht. Man kann das nicht mehr als Tel Aviver Phänomen eingrenzen, sondern die Demonstrationen in den letzten Tagen in Beersheva und anderen Städten zeigen, dass das weitergeht.

FM4: Sie haben den Arabischen Frühling erwähnt: Orientiert man sich in Israel, was die Proteste betrifft, eher an der arabischen Welt oder an Europa?

Rabinovici: Es wird die Parallele zu den arabischen Ländern gesehen, gleichzeitig muss man sagen: In Israel steht die wirtschaftliche Situation im Vordergrund. Es handelt sich um das Problem, dass nicht nur die junge Generation nicht fertig wird mit den Belastungen. Es gibt im Hebräischen den Ausdruck "mit dem Monat nicht fertig werden". Und die werden mit dem Monat nicht fertig.

Es handelt sich also um eine Auseinandersetzung mit einem wildgewordenen Markt. Es ist aber nicht die Auseinandersetzung mit einem Tyrannen. Es ist nicht die Konfrontation mit der Armee, die eine Diktatur stützt. Und es ist nicht die Revolte einer Unterschicht wie in London, sondern es ist eigentlich eine junge Mittelschicht, die abzustürzen droht. Das ist vielleicht eine Parallele zu Spanien. Kein Wunder, dass es in Tel Aviv beginnt, Tel Aviv ist das Zentrum des Kapitals, aber auch das Zentrum der Kritik daran.

Tel Aviv war eigentlich der Ort, der am wenigsten utopistisch war in Israel und am meisten praktisch, hedonistisch, modern. In diesen Wochen ist es zum Zentrum einer sozialen Utopie geworden. Die Leute fordern ganz eindeutig den Sozialstaat und geraten damit in Diskrepanz zu einem Premierminister, der vorher oder dazwischen Finanzminister war und eindeutig den Sozialstaat abschaffen wollte. Bei uns wird Netanjahu meistens in seinen nationalistischen Positionen gesehen, in Israel ist er auch ein Vertreter der Marktwirtschaft pur. Er steht eigentlich für ganz etwas anderes, als diese Jugend jetzt einfordert.

FM4: Jetzt geht es den Protestierenden um eine leistbares Gesundheitswesen, um Bildung, aber eben auch um leistbaren Wohnraum.

Rabinovici: Die Bewegung versucht sehr vorsichtig zu sein und nicht sofort die Themen zu behandeln, die sonst das Land stark polarisieren. Man redet weniger über die Besatzungs- und die Siedlungspolitik, denn das würde dieselben Aufspaltungen bringen, die es sonst gibt. Jetzt demonstrieren Juden und Araber, Leute aus verschiedensten Gruppierungen gemeinsam für soziale Fragen.

In dieser Zeltstadt in Tel Aviv fanden sich sehr bald Leute ein, die sagten: "Kommt doch zu den Siedlungen, in den besetzen Gebieten, da ist der Wohnraum billiger." Und die wurden verlacht. Denn das ist es nicht, was diese Bewegung will, die wollen in ihren Städten bleiben.
Und das ist ein anderes Israel! Ein anderes als das Israel der Siedler, eben nicht ein ideologisches Israel, sondern eines, das andere Fragen in den Mittelpunkt stellt, das finde ich eben so interessant.

FM4: Der Vorwurf an diese Protest-Bewegung ist – ähnlich wie an die unibrennt-Bewegung – sie wollen zuviel, ein besseres Gesundheitssystem UND den Kapitalismus abschaffen. Wie, glauben Sie, wird das weitergehen?

Rabinovici: Ich glaube, dass diese Bewegungen, die alles wollen, deswegen alles wollen, weil sie auf so viel Unverständnis in den Gremien der Politik stoßen. Und die Gremien der Politik sind ja wieder relativ untätig oder machtlos gegenüber der Wirtschaft. Das ist der Grund, warum diese Bewegungen mehr verlangen, als manche ihnen raten. Und es ginge um eine ganz prinzipielle Veränderung. Und die durchzuführen ist die Politik nicht bereit. Also ist es genauso realistisch, mehr zu fordern.

Ich weiß noch nicht, wohin das läuft. Ich glaube, es ist aber gut - insofern ist der Vergleich mit unibrennt auch richtig - wenn es neue Formen und neue Generationen des politischen Engagements gibt. Und das hat Langzeitwirkungen. Die Leute in den Redaktionen von privaten Fernsehsendern werden das nicht sofort verstehen. Die Leute, die in der Regierung arbeiten, werden das auch nicht sofort verstehen. Aber darum es geht es nicht, sondern es geht, glaube ich, darum, dass eine Generation und eine ganze Klasse von Leuten sich artikuliert. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Stimme in den nächsten Tagen ungehört verhallt.

FM4: Die liberale Zeitung Haaretz meinte, sobald sich wieder Konflikte verschärften und es die ersten Bomben gäbe, würde der Protest wieder vergessen sein. Besteht diese Gefahr?

Rabinovici: Ja, diese Gefahr besteht. Da steht zum Beispiel die Frage: Was geschieht im September, wenn es um die Initiative der palästinensischen Administration in der UNO gehen wird? Wird man sich dann wieder im ewig alten Propagandakrieg verfangen oder nicht? Das wird man noch sehen.

Aber: Was bisher geschah, war erstaunlich richtig. Was bisher geschah, war mehr, als zu erwarten war. Diese junge Bewegung hat sich nicht sofort fangen lassen von den üblichen Zahnrädern der Politik. Und sie ist nicht auf Tel Aviv beschränkt geblieben. Und damit hat sie Themen in die öffentliche Diskussion gebracht, die jahrzehntelang diskreditiert waren. Und das ist schon einmal nicht wenig.
Wenn wir hier in Österreich von Israel hören, dann immer nur von einem Israel in diesem Konflikt. Aber dieses Israel ist ein wirklich heterogenes Land. Und es ist auch ein Land, das sehr lebendig ist und Sachen sehr vielfältig diskutiert.

In den letzten Jahren sind wir immer konfrontiert gewesen mit Nachrichten, wo wir das Gefühl hatten: Da geht nichts weiter. Wie soll das noch irgendetwas Positives bringen. Aber: Die Realität kann sich in zwei, drei Wochen total ändern, plötzlich reden Menschen über etwas anderes. Wir sollten das nie vergessen, denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.