Erstellt am: 16. 8. 2011 - 12:58 Uhr
Bildung ist kein Produkt
Es hätte so ein schöner Tag für den Präsidenten werden können. Am 5. August jährte sich das als "Wunder von Chile" weltberühmte Grubenunglück in der Kupfermine von San José. Alle 33 Bergleute haben überlebt. Ihre Geschichten - inklusive Seitensprüngen und anderen persönlichen Schicksalen - rührten die Weltöffentlichkeit. Präsident Sebastián Piñera war am Höhepunkt seiner Popularität. Ein Jahr später ist das erste rechtskonservative Staatsoberhaupt seit Ende der Pinochet-Diktatur 1989 wohl der unbeliebteste Präsident der kurzen Demokratie-Geschichte des Landes.
EFE
4. August 2011: Über 100.000 chilenische Studierende und viele Unterstützer marschieren durch Santiago. Der Marsch ist der bisherige Höhepunkt einer seit über zwei Monaten andauernden Protestbewegung. Anfangs ging es um eine Verbesserung des voll auf den freien Markt zugeschnittenen Bildungssystems. Mittlerweile ist es zu einer landesweiten Bewegung gegen die gesamte Regierung geworden. Auch Minenarbeiter und die indigene Mapuche-Minderheit haben sich angeschlossen. "Dieser Wandel der öffentlichen Meinung ist wichtig. Aber noch viel bedeutender scheint mir, dass in Chile der neoliberale Bann gebrochen ist, wonach Bildung als Ware begriffen wird", so der Studenten-Sprecher Pablo Yañez in der Jungleworld. Die Polizei reagiert brutal. Mit Wasserwerfern schießen sie auf die Demonstranten. Offizielle Begründung: Die Proteste seien nicht offiziell angemeldet. Mittlerweile sind über 1000 Demonstranten in Haft und über 100 Polizisten verletzt, nachdem auch einige Demonstranten zur Gewalt gegriffen haben.
EFE/Mario Ruiz
Bildung als Ware
In kaum einem anderen Land der Welt ist der Glaube an den freien Markt stärker ausgeprägt als in Chile. Das zeigt sich vor allem am Bildungssektor. Die öffentlichen Schulen haben die Qualität eines unambitionierten Fernstudiums. Wer seinen Kindern wirklich Zukunft geben will, schickt sie auf eine Privatschule. Die kosten aber um die 500 Euro im Monat. Und das können sich nur ganz wenige leisten.
Nach der Schule geht die Scheckbuch-Bildung weiter. Interessanterweise sind es die öffentlichen Universitäten, die beste Qualität anbieten. Weil sie aber chronisch unterfinanziert sind, suchen sie sich die Studierenden aus. Den Aufnahmetest bestehen aber nur jene, die eine ordentliche Schulbildung, sprich eine private, haben. Um die große Menge der nicht ganz so gut gebildeten Uni-Interessenten matchen sich die zahlreichen Privatuniversitäten. Sie akzeptieren jeden, allerdings nur für Geld. Viele Jugendliche der ärmeren Mittelschicht (denn wer wirklich arm ist, hat keine Chance auf ein Studium) nehmen Kredite zu furchtbaren Bedingungen auf und verschulden sich oft für den Rest ihres Lebens. Dafür gibt es immerhin exotische Studienrichtungen wie zum Beispiel "Martial Arts." Die durchschnittlichen Studiengebühren betragen bis zu 7000 Euro jährlich.
Apa/Felipe Trueba
Jahrelang wuchs die Unzufriedenheit unter den jungen Menschen, bis sie vor zwei Monaten zu ersten Protesten führte. Anfangs zeichnete sich die Bewegung vor allem durch Kreativität aus. Einer der Höhepunkte - neben ganz vielen SuperheldInnen-Verkleidungen - ein riesiger Thriller-Flashmob:
Andere Demonstranten gehen es noch sportlicher an. Seit Mitte Juni laufen sie um "La Moneda", den chilenischen Präsidentenpalast. Nonstop im Staffelsystem:
"Ich kann nicht mehr richtig atmen"
Seit zwei Wochen ist es mit der friedlichen Stimmung aber vorbei. Die Polizei wurde anscheinend nervös, als sich viele Bürger den Protesten anschlossen und zu einem Protestmittel aus der Diktatur-Zeit griffen: Fenster auf und mit voller Inbrunst auf Töpfe schlagen. Als der Lärm der Topfschläger durch Santiago hallte, startete die Exekutive die Wasserwerfer. Seitdem stehen sich die Fronten noch härter gegenüber.
Die deutsche Bloggerin Meike Stephan ist gerade auf Auslandssemester in der chilenischen Stadt Valparaíso. Auf der Website acht9 berichtet sie von den Demonstrationen:
Wir fangen an im Takt zu tanzen während immer mehr Menschen auf die Plaza strömen. Überall fotografieren und filmen die Menschen die Bewegung. Die Bewegung ist in ganz Chile. In allen Städten, auf allen Plätzen klopfen Menschen auf Töpfen für eine kostenlose Bildung. Die Polizisten, eine feste Mauer aus Schildern, dahinter Köpfe in Gasmasken, rennen auf uns zu. Plötzlich fliegt etwas durch die Luft. Die Menschen schreien, ich bekomme Panik. Was werfen sie auf uns? Überall glüht es rot in der Luft, dann kommen die kleinen Päckchen auf dem Boden auf und Rauch kommt heraus. Plötzlich ist alles grau, ich höre Schreie, wir rennen wild durcheinander. Mein Hals brennt fürchterlich, ich kann nicht mehr richtig atmen. Meine Nase juckt, die Augen tränen. Die Plaza ist voller Tränengas. Wir rennen alle den Berg hinauf, schreien, ein paar klopfen weiter auf ihren Töpfen. „Pacos culiados!“, verdammte Polizisten, schreien die Studenten. Wir sind wütend. Warum geht die Polizei so aggressiv vor? Warum lassen sie uns nicht demonstrieren? „Alle Straßen in Chile sind voll! Wir sind überall!“, schreien die Studenten durch die Straßen.
EFE/Felipe Trueba
Geld für Bildung statt für die Armee?
Piñeras Amtsantritt fiel mit der Erdbebenkatastrophe 2010 zusammen. Der anfangs beliebte Millionär und Harvard-Absolvent verliert seitdem stetig an Popularität. Nicht zuletzt deshalb, weil er den Coach des chilenischen Nationalteams Marcelo Bielsa aus dem Amt geekelt hat.
So brutal die Fronten, so realistisch sind eigentlich die Forderungen der Bewegung. Sie wollen mehr staatliche Unterstützung für die Bildung. Ärger herrscht vor allem über Piñeras bisherige Äußerungen: "Bildung ist ein Produkt", sagte der Präsident. Und seine Weigerung, mehr Geld für Bildung auszugeben, wehrt er mit dem Argument ab, man könne doch nicht die Armen dazu zwingen, mit ihrem Steuergeld irgendwelche Studenten zu unterstützen. Doch die Protestbewegung redet nicht unbedingt von Steuern. Kupfer ist das wichtigste Exportgut des Landes. Zehn Prozent der jährlichen Einnahmen gehen direkt an die Armee, auch das ein Gesetzes-Relikt aus der Pinochet-Zeit. Eben dieses Geld wünschen sich die Studierenden für den Bildungssektor, damit das freie Spiel des Marktes endlich aufhört. Bis jetzt bleibt die Regierung aber stur.
Am stursten ist der Präsident selbst. Den Hoffnungsträger der gemäßigten Rechten halten 70 Prozent der Chilenen mittlerweile für unglaubwürdig. Ein katastrophaler Wert, aber nicht unbegründet. Denn wer mit Wasserwerfern gegen topfschlagende Kinder vorgeht, hat definitiv ein Legitimationsproblem.