Erstellt am: 16. 8. 2011 - 14:11 Uhr
Eine andere Ernährung ist möglich?
Wieder einmal erreichen uns in diesen Wochen schreckliche Nachrichten und Bilder von einer Hungerkatastrophe in Südostafrika. Und wieder einmal bin ich erstaunt darüber, wie „natürlich“ diese Krise in den Medien daherkommt, als Folge von Kimawandel, Dürre und lokalen Konflikten. Dabei sind Hungerkatastrophen keine natürlichen Phänomene, sondern gesellschaftlich produziert. Sie sind die Folge von globalen Handelsregimen, ungleicher Landverteilung, Privatisierung von Ressourcen wie Saatgut, Finanzspekulationen mit Agrargütern, dem massiven Landkauf von Staaten und internationalen Unternehmen in Afrika (Land Grabbing), der politischen Unterstützung für den Anbau von Agrartreibstoffen, die in direkter Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion stehen, und und und.
Von Afrika nach Europa: die multiplen Krisen

Andreas Dirscherl / flickr / Creative Commons
Doch unser globalisiertes Nahrungsmittelsystem ist nicht nur unfähig, in Zeiten der Überproduktion die Versorgung der Weltbevölkerung sicherzustellen. In weiten Teilen der Erde basiert dieses zudem auf einem massiven Raubbau an Natur und Mensch. Die industrielle Nahrungsmittelproduktion ist für circa ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich, führt zur Auslaugung von Böden, Wasserknappheit, Abholzungen und dem Verlust von Biodiversität. Während sie jährlich Millionen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern zum Ausstieg aus der Landwirtschaft zwingt (Stichwort: Wachse oder weiche!), bürdet sie gleichzeitig Millionen unwürdige oder prekäre Arbeitsbedingungen auf, sei es den Migrant_innen in den Treibhausplantagen Südspaniens oder auf dem Marchfeld, sei es den schlecht bezahlten Arbeitskräften in der Lebensmittelverarbeitung oder im Supermarkt. Auch wenn wir jeden Morgen gemütlich unser Frühstücksei verspeisen und unseren frisch gebrühten Kaffee genießen: die Nahrungsmittelversorgung steckt in multiplen (sozialen, verteilungspolitischen, ökologischen) Krisen.
Vielfachkrisen – vielfältige Lösungsvorschläge
Diesen Krisen versuchen soziale Bewegungen rund um den Globus mit dem Begriff der Ernährungssouveränität zu begegnen. Das von der kleinbäuerlichen Organisation Via Campesina entwickelte Konzept bezeichnet die Rechte auf Ernährung. Errährungssouveränität beschreibt das Prinzip, dass die Menschen die Gestaltung ihrer Ernährung – von der Aussaat bis zum Verzehr – selbst in die Hand nehmen, anstatt sie an einige wenige Akteurinnen und Akteure abzugeben.
Damit wendet sich die Forderung nach Ernährungssouveränität gegen dominante Lösungsvorschläge von Seiten der Politik: Da wäre zum einen der technokratische Diskurs um Ernährungssicherheit, der Nahrungsmittelkrisen im wesentlichen durch „more of the same“ lösen möchte: Freihandel, der Aufbau eines deregulierten Weltmarktes gepaart mit technischen Neuerungen wie gentechnisch verändertem Saatgut oder eine neue Grüne Revolution in Afrika (AGRA) sollen die globale Versorgung sicherstellen.
Und da wäre zum anderen der Diskurs um Konsument_innendemokratie: Demnach würde die zukünftige Ausgestaltung des Nahrungsmittelsystems an der Supermarktkassa entschieden.
Vertreter_innen des Konzepts der Ernährungssouveränität werfen diesen Ansätzen vor, dass sie die strukturellen Machtverhältnisse des Nahrungsmittelsektors völlig ausblenden. In den letzten Jahrzehnten haben sich innerhalb der Wertschöpfungskette starke Konzentrationsprozesse zu vollzogen, die die vielfach beschworene Wahlfreiheit der KonsumentInnen und der Bauern und Bäuerinnen stark einschränken. Sowohl auf der Input- (Saatgut, Dünger etc.), als auch auf der Output-Seite (Verarbeitung, Vertrieb, Verkauf) der landwirtschaftlichen Produktion kontrollieren einige wenige Firmen den Großteil des globalen Marktes. Sie bestimmen zu einem gehörigen Anteil, was angebaut wird, welchen Preis die ProduzentInnen erhalten, und schließlich, was bei uns zu welchem Preis auf den Tisch kommt. Im Gegensatz dazu setzt Ernährungssouveränität eine radikale Demokratisierung des Lebensmittelsystems voraus. Die Frage, wer wie für wen welche Nahrungsmittel produziert und wie diese verteilt und konsumiert werden, steht dabei im Zentrum.
Von Mali nach Krems – Schritte in Richtung Ernährungssouveränität?

Jeff Attaway /flickr / Creative Commons
2007 fand in Sélingué, einer Dorfgemeinschaft Malis, das erste globale Forum zu Errnährungssouveränität statt, das nach einer mythischen malischen Bäuerin benannt wurde: Nyéléni. 500 Bäuerinnen und Bauern, Fischer_innen, Indigene, Landlose, Landarbeiter_innen, Vertreter_innen von städtischen sozialen Bewegungen und Umweltbewegungen aus aller Welt nahmen daran teil. Das erste Nyéléni-Forum war ein Selbstermächtigungsprozess, in dem marginalisierte Bevölkerungsteile, die in dominante politische Lösungsstrategien nicht einbezogen werden, ihre Stimme erhoben und eigene Visionen präsentierten. In der Nyéléni-Deklaration, die am Ende des Treffens in Mali verabschiedet wurde, heißt es:
„Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne. Sie verteidigt das Wohlergehen kommender Generationen und bezieht sie ein in unser vorsorgendes Denken. Sie ist eine Strategie des Widerstandes und der Zerschlagung derzeitiger Handels- und Produktionssysteme, die in den Händen multinationaler Konzerne liegen.“
So utopisch diese Vorstellungen klingen mögen: mittlerweile haben mächtige Organisationen wie die FAO (Food and Agricultural Organisation der UNO) und zentrale Dokumente wie der Weltagrarbericht den Begriff der Ernährungssouveränität sowie einige der damit verbundenen Forderungen übernommen. Beim ersten europäischen Nyeleni-Forum, das in dieser Woche in Krems stattfinden wird, und an dem über 400 Produzent_innen und Aktivist_innen von Albanien über Spanien bis zur Türkei und Urkaine teilnehmen werden, geht es nun darum, die Bewegung für Ernährungssouveränität in Europa zu stärken sowie gemeinsame Konzepte für die Umsetzung des Konzepts zu entwickeln.
Internationale Solidarität statt nationalistische Abschottung

Eileen Delhi / flickr / Creative Commons
Auch wenn in der letzten Zeit einige Akteurinnen und Akteure - wie in Österreich etwa der Bauernbund - versucht haben, den Begriff der Ernährungssouveränität nationalistisch – d.h. als Abschottung des einheimischen Lebensmittelmarktes – umzudeuten, basiert das Konzept vielmehr auf internationaler Zusammenarbeit und Unterstützung. So führen kleinbäuerliche Bewegungen in Europa den Kampf um eine neue, andere europäische Agrarpolitik (GAP) nicht nur aufgrund der eigenen Benachteiligung, sondern auch im Wissen darum, welche katastrophalen Auswirkungen die GAP auch für Millionen von Kleinproduzent_innen im globalen Süden haben. Die Etablierung eines anderen Nahrungsmittelregimes ist dabei nur eines von vielen Bestandteilen von Ernährungssouveränität.
Ernährungssouveränität hat viele Gesichter und fungiert auf unterschiedlichsten Ebenen: Sie findet sich in Food-Coops und Community Supported Agriculture ebenso wieder wie in Kampagnen gegen die Ausbeutung von Lidl-MitarbeiterInnen, in den Kämpfen gegen die Privatisierung von Saatgut, gegen Gentechnik und Agrartreibstoffe oder der Wiederaneignung öffentlicher Räume in Form von Urban Gardening. Die Breite des Konzepts und der möglichen Anküpfungspunkte für unterschiedliche soziale Bewegungen ist dabei sowohl Stärke als auch Schwäche. Wie die unterschiedlichen Kämpfe um ein anderes Nahrungsmittelsystem vereint und damit gestärkt werden können, wird eine der zentralen Herausforderungen des Nyeleni-Forums in Krems sein. Doch auch wenn das Forum in dieser Hinsicht erfolgreich sein sollte, wird es die zentrale Voraussetzung für Ernährungssouveränität höchstens anstoßen, nicht aber ersetzen können: eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um die Zukunft unser aller Ernährung.