Erstellt am: 15. 8. 2011 - 22:59 Uhr
Journal 2011. Eintrag 153.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Heute mit einer komplett überraschenden Fortsetzung der Journale der letzten Zeit.
Eintrag 151: Die Feinde der Zivilisation. Die alten Rechten erkennen die Gefahren der neuen Rechten.
Eintrag 150: Was die beiden zentralen Ereignisse des Jahres.
Eintrag 147: Die Gefährlichkeit der neuen, postmodernden Variante der erzreaktionären Spießer&Klemmer-Schule.
Eintrag 144: Die Gretchenfrage: Wie wird das europäische Christentum mit den neuen Kreuzrittern umgehen?.
Eintrag 143: Fremdes Land - Das Buch zum Kontrollwahn. Die Security-Demokratie als Roman.
Eintrag 142: Schockstarren und andere strategische Seltsamkeiten. Was die österreichischen Reaktionen auf Oslo erzählen.
Eintrag 141: Was Breiviks "Vienna School of Thought" ist und wer seine "Brethren" sind.
Verweise/Bezüge:
Charles Moores I'm starting to think that the Left might actually be right im Daily Telegraph.
Constantin Seibts Der rechte Abschied von der Politik im Tagesanzeiger.
Frank Schirrmachers Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat in der FAS.
Robert Misiks Warum vernünftige Bürgerliche jetzt zur Linken überlaufen auf misik.at.
Georg Diez' Realitätsverlust von rechts im Spiegel.
Kurz nach dem Breivik-Attentat auf das demokratische Europa hab ich mich an dieser Stelle über die auch als Ignoranz auslegbare Schockstarre gewundert mit der die Konservativen, die originale Rechte also, auf die Osloer Ereignisse reagiert hat. Denn dort, im Umfeld der rechtsradikal-fundamentalistischen Kreuzritter-Irrlichter wurde sie erstmals mitattackiert.
Denn mit der bis dahin bis zum erbrechen geübte Schein-Neutralität der Konservativen, des Bürgertums, der klassischen "alten" Wirtschaft der Industrie und des Kapitals, des mächtigen Landadels alter und neuer Prägung und der anderen Kräfte des Bewahrens, was den großen Konflikt zwischen den xenophoben Extrem-Populisten und den irgendwie zu grob als "links" zusammengefassten Freunden einer als "Gutmenschlichkeit" missverstandenen Befürwortern eines integrativ-globalen Zusammenlebens, war es da nämlich vorbei. Oslo (und vor allem die unverhohlen höhnenden Pseudo-Rechtfertigungen der neuen rechtsextremen Sektierer) machte klar, dass auch die Konservativen mit im Feindes-Boot sitzen.
Kurz nach Ausbruch der englischen Riots habe ich an dieser Stelle die Ursachen, die dazu geführt haben, angesprochen: Und natürlich war es der in seiner Brutalität widerwärtige, mit dem behübschenden Terminus "neoliberal" nicht ansatzweise wiederzugebende Raubtier-Kapitalismus (im speziellen Fall der Thatcherismus), der vor den Vorhang musste.
Das ist - im Gegensatz zur Erkenntnis aus Oslo - nichts Neues.
Ideologische Verschiebungen lösen die Schockstarre
Aber die beiden markanten Ereignisse treffen aktuell auf eine fatale Entwicklung, die die Kollegen Zikmund und Pinguin deutlich besser im Analyse-Griff haben: Das bewusste An-die-Wand-Fahren der nationalen Ökonomien und auch der Weltwirtschaft durch die neoliberalen Kräfte.
Es treffen also Verschiebungen im ideologischen Spektrum, Änderungen im politphilosophischen Aufmarschgebiet auf eine ganz reelle ökonomische Gefahr zusammen.
Es ist also kein Zufall, dass es seit ein paar Tagen in den konservativen Think Tanks nur so brummt. Plötzlich - auch durch die Kumulierung der Ereignisse, und auch, weil das Bewusstsein für die Gefahren jetzt aus mehreren Stoßrichtungen kommt und unüberseh-/hörbar wird - passiert was in solchen Situationen nötig ist: Alte Positionen werden überdacht, neue Möglichkeiten entworfen. Man kratzt Dogmen an, man denkt das bis dato Denkunmögliche.
Und die Rechte, besser: Die konservativen Kräfte, die an den Markt und seine Balance glauben, kommen zu neuen Einsichten. Und zwar in erstaunlicher Einigkeit, über die Sprach- und Philosophie-Grenzen hinweg.
Alte Konservative üben sich in selbstständigem Denken
Charles Moores I'm starting to think that the Left might actually be right machte einen Anfang - auch durch diverse führende US-Konservative, die dort die fundamentalistische Tea Party (die ebenso mit Breiviks Ideen kokettiert, wie das die europäischen Rechtsaußen-Populisten tun) an der Backe haben, und sich zuletzt dagegen empörten, beeinflusst.
Im deutschen Sprachraum machte der von mir am Freitag zitierte Constantin Seibt im Tagesanzeiger mit Der rechte Abschied von der Politik einen Anfang. Robert Misik führt - dank seiner ökonomischen Expertise - noch eine Menge andere (deutschsprachige und amerikanische) Zeugen an.
Und am Sonntag war es dann der Taktgeber der deutschen konservativen, Frank Schirrmachers in der Frankfurter Allgemeinen: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat".
Es ist im übrigen völlig egal was diese klassisch-konservativen mit "links" oder "Linke" meinen - meiner Ansicht nach ist das ein zu Tode gerittener Begriff ohne praktische Bedeutung; im transatlantischen Diskurs ist er sowieso nicht zu gebrauchen. Es ist auch sehr egal wer jetzt im Nachhinein recht gehabt hat. Oder ob man jetzt Krugman oder Chomsky den Vorzug gibt.
Neue Koalitionen in einem neuen Kampf der Kulturen?
Wichtig ist einzig und allein, dass eine Gruppierung, die die Fäden der alten Wirtschaft, die noch großteils jenseits der reinen Virtualität und damit noch in einem alten Modus von Gier drinsteckt, mit dem man umgehen und leben kann, weil er den Kreislauf des Marktes akzeptiert, in der Hand hält, aufgewacht ist und erkennt, dass "man sich nicht raushalten kann" aus dem Krieg der Kulturen. Der findet nämlich nicht zwischen Religionen oder Nationen statt, sondern zwischen der neuen hysterisch-fundamentalistischen Rechten und ihrem neoliberalen Wirtschafts-Arm und jenen, auf deren Kosten sie sich erheben, statt. Also dem neuen Proletariat und der mittlerweile kompletten Mittelschicht - und zwar überall, egal ob im Entwicklungs-, Schwellen- oder Industrieland.
Ohne (altes oder neues) Proletariat und ohne Mittelschicht kann aber die alte konservative bewahrende Wirtschafts-Oberschicht nicht existieren. Und deshalb schwant ihr jetzt, angesichts des fast schon beendeten Zerstörungs-Werks, was da abgeht.
Und das mit ein bisserl Unterstützung durch die Hardcore-Version der Jugend-Aufstände: Denn das, was in Spanien noch integrierbar daherkommt, zeigt in England nur noch, dass es bereits vorbei und gegessen ist mit der Chance auf Dialog. Dazu noch das (neue) Bewusstsein gleichwertig auf der Todesliste der Kreuzritter-Terrorbanden zu stehen - fertig ist der Nährboden für längst Überfälliges.
Schirrmacher als Groundbreaker im deutschen Sprachraum?
Und genau diese Debatte ist gerade eben detoniert, nein, explodiert, weil sie ausstrahlen wird, weil sie zu einer absurd anmutenden Koalition der außergewöhnlich guten Kräfte führen kann, eine Liga all jener, die sich nicht an eine neoliberale Security-Gesellschaft aufliefern möchten.
Michael Fleischhacker schwitzt schon und muss sich entscheiden ob er zu Schirrmachers Erkenntnis-Klasse (was, wenn es nach Wirtschaftsbund/-kammer und Industriellen-Vereinigung geht, ziemlich klar sein müsste) gehören will oder sich doch zu jenen (zwei) heimischen Rechtsaußen-Bloggern, die womöglich ins Extreme abdriften werden, gesellen will.