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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

18. 8. 2011 - 08:47

Von Wölfen umzingelt

In "Crime" von Irvine Welsh gibt es keine Semiotik der Unschuld mehr: Kleine Mädchen werden zu Sexobjekten degradiert.

"Geh heute Abend nicht weg", sagt das Mädchen leise, halb hoffnungsvoll, halb flehend. Die zehnjährige Tianna beobachtet ihre Mutter öfters beim Schminken und mag es, wie die rosa Zunge aus ihrem Mund schießt, um den Eyeliner zu befeuchten. Sie riecht das billige Parfum, das sich in den nächsten Stunden in billigen Schweiß verwandeln wird. Draußen hupt jemand. "Mach dir um mich keine Sorgen, Schatz". Und dann bleibt Tianna allein zurück in einer Lichtpfütze. Nach einer Weile geht sie ängstlich ins Bett und wartet, bis sie Stunden später Schritte auf den Steinstufen hört. Sie hört Stimmen und gedämpftes Lachen. Ihre Mutter würde bei den Pillen, die sie nahm, tief schlafen. Sie aber würde ihn ertragen müssen. Das Mädchen zieht sein Nachthemd ganz nach unten, umklammert den Saum mit einer Handvoll Bettzeug und macht sich bereit.

Von Wölfen und Lämmern

Irvine Welsh "Crime" Buchcover

Kiepenheuer & Witsch

Irvine Welsh: "Crime" ist 2011 in deutscher Übersetzung von Clara Drechsler und Harald Hellmann bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Während wir das kleine Mädchen mit ihrer Angst allein lassen müssen, steigt wenige Kilometer entfernt Ray Lennox aus dem Flugzeug. Lennox braucht eine Auszeit: Als Polizist im heimischen Edinburgh hat er kürzlich an vorderster Front den Fall eines Kinderschänders bearbeitet. Das Trauma der Bilder, der nackten Haut, der zerbrochenen Körper und Seelen sitzt aber noch tief, seine Verlobte Trudi möchte ihn ablenken. Nur ist Trudi so auf die Vorbereitungen für ihre Hochzeit konzentriert, dass Ray flüchtet - in einen Sumpf voller Alkohol, Koks und Go-Go-Tänzerinnen. Miami ist ein Paradies für Zwischenstopps dieser Art.

In einem Nachtclub lernt Lennox die völlig kaputte Robyn kennen, rasch landet man mit ein paar anderen Typen in ihrem Appartement. Es werden Gürtel ausgezogen, Hosen geöffnet, Gelüste gestillt. Bis nebenan ein Mädchen schreit - Lennox stürmt ins Kinderzimmer, zieht sich dabei seine Hose rauf und sieht einen der Typen auf einem kleinen Mädchen liegen; der Wolf ist dabei, sein Opfer zu reißen. Lennox geht dazwischen und sperrt sich mit dem Mädchen im Kinderzimmer ein, bis alle - inklusive der zugekoksten Mutter - verschwunden sind. "Bleibst du heute Nacht bei mir?", fragt die Kleine. Ihr Name ist Tianna.

Wölfe in Aktion

flickr.com/photos/iam_photo

Erbarmungslose Wölfe

Hier schließt sich der Kreis des Romans: Tianna wurde bereits mehrfach von den Männern ihrer Mutter missbraucht. Darunter auch Polizisten der Stadt Miami, die Robyn in Bars kennengelernt hat. Robyn selbst hat keine Ahnung davon, sie ist ein Wrack und für ihre Männer nicht mehr als ein Fußabtreter. Auch von seiner eigenen Vorgeschichte geprägt, nimmt sich Lennox des Mädchens an und will es zu ihrem Onkel Chet bringen, der allerdings einige hundert Kilometer von Miami entfernt lebt. Die Polizei kann er nicht verständigen, da er nun weiß, dass es auch dort schwarze Schafe gibt und für seine Verlobte hat er auch nur einen kurzen Anruf übrig. Seine Aufmerksamkeit gehört nur dem kleinen Mädchen.

Immer mehr bröckelt allerdings die Rettungsaktion. Tianna wurde die Unschuld schon vor Jahren gestohlen: Das kleine Mädchen kleidet sich anzüglich, schminkt sich, möchte Lennox sogar verführen. Er widersteht, versucht seine Autorität zu wahren, muss aber feststellen, dass um ihn herum mehrere Monster lauern: an Tankstellen, in Hotels, in Parks. Kaum dreht er sich um, redet Tianna mit anderen Männern, die sie streicheln, ihr einen Lollipop schenken und sie mitnehmen wollen. Und auch Onkel Chet scheint nicht ganz so sauber zu sein. Es sieht so aus, als seien Lennox und das Mädchen von Wölfen umzingelt.

Irvine Welsh

Irvine Welsh

Irvine Welsh

Die Semiotik der Unschuld

Bereits 2008 legt der schottische Autor Irvine Welsh seinen Roman "Crime" vor. Schon damals wurde die Geschichte über einen abgewrackten Polizisten, der ein kleines Mädchen beschützen will, in den Kritiken gelobt. Die Geschichte ist allerdings nicht ganz neu: Schon 1958 erscheint "Das Versprechen" von Friedrich Dürrenmatt, das ähnliche Konstellationen vorweg nimmt. Auch bei Dürrenmatt ist es ein Polizist, bei dem väterliche Gefühle entstehen, und auch in "Das Versprechen" ist das Kind das Opfer, das ständigen Schutz benötigt. Irvine Welsh macht aus der einzelnen Bedrohung nun allerdings eine um sich greifende und sich verbreitende Gier nach jungem Fleisch. Welsh, den man vor allem durch seinen Junkie-Roman "Trainspotting" kennt, erzählt seine Geschichte in einer sexuell aufgeladenen Medienwelt, in der sich Sex nicht nur gut verkauft, sondern zum Grundsockel der Wahrnehmung wird. Kurze Röckchen und tiefer Ausschnitt: Das Schulmädchen-Outfit findet sich bereits bei Britney Spears in "Hit Me Baby One More Time". Auch Spears' medial verbreitete Jungfräulichkeit ist lange Zeit an vorderster Front der Wahrnehmung. Britney ist daher nicht ganz zufällig auch der Name des kleinen Mädchens im Fall von Edinburgh, vor dem Ray Lennox nach Miami flüchtet.

Britney Spears mit Lollipop

flickr.com/Lilund

Britney Spears

Weitere Leseempfehlungen:

Irvine Welsh streut in "Crime" nur wenige Anzeichen, dass es sich bei Tianna um ein zehnjähriges Mädchen handelt, und das ist Absicht. Es gibt für ihn keine Semiotik der Unschuld mehr, keine Zeichen, die vom Mädchen oder ihrem Umfeld auf ihr tatsächliches Alter hinweisen sollen. Ganz im Gegenteil: Hier wird die Semiotik der Unschuld pervertiert. Der Lolita-Faktor ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Zeichen der Unschuld sind der Inbegriff von Sex. Das Mädchen benimmt sich wie eine Erwachsene, während Lennox der Einzige ist, der sie wie ein Kind behandelt. Dies ergänzt Welsh durch einen mitreißenden Schreibstil, natürlich mit dem einen oder anderen Schockelement, bei dem man sich angewidert abwenden soll - oder auch nicht. Die Passagen über den alten Fall in Edinburgh schreibt Welsh in der zweiten Person singular, wie einen Dialog, in dem Lennox der Angesprochene ist. Das erzeugt mehr Intimität, als dies aus der Ich-Perspektive möglich gewesen wäre.

Die Geschichte von "Crime" ist nicht neu, aber hervorragend erzählt. Bei Welsh gibt es keine Triebtäter mehr, es gibt nur noch den Trieb.