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Clemens Setz

Schriftsteller und Übersetzer

11. 8. 2011 - 14:31

Die Kunst der Rückkehr

Mit Clemens Setz auf "Gullivers Reisen". Teil 8: Gulliver nimmt ein Hühnerauge mit nach Hause. Eine Sommer-Mit-Lese-Aktion.

Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz

Das Ende des Aufenthalts im Riesenland steht bevor. Und wird auch langsam Zeit, denn Gullivers Platz in der Gesellschaft von Brobdingnag wird immer mehr der eines unerträglichen Fremdkörpers, eines Homunculus aus der Hölle gewissermaßen. Gulliver beschreibt dem König eines Tages den Mechanismus einer Kanone und möchte gerne als Berater beim serienmäßigen Bau dieser Vorrichtung fungieren:

„Der König wurde von Grauen über die Beschreibung gepackt, die ich von diesen furchtbaren Kriegsmaschinen gegeben, und über den Vorschlag, den ich gemacht hatte. Er sei bestürzt, dass ein so schwaches und niedriges Insekt wie ich (das waren seine Worte) sich mit solchen unmenschlichen Gedanken, und zwar in so vertrauter Weise, tragen könne [...].“

gullivers reisen

insel verlag

Jonathan Swift: "Gullivers Reisen", in einer Übersetzung von Franz Kottenkamp, erschienen im Insel Taschenbuch

Auch die Tatsache, dass es in dem entsetzlichen Land, aus dem der kleine Mann kommt, so etwas wie „Politwissenschaften“ gibt, entsetzt den König. Doch er gedenkt nicht, Gulliver deswegen aus der Welt zu schaffen. Ein Bote aus der Hölle ist doch etwas, das man bei sich dulden kann, vielleicht könnte man sogar eine kleine Züchtung dieser kleinen barbarischen Europäer-Monster probieren ...?

„[Der König] war sehr darauf erpicht, mir ein Weib meiner eigenen Größe zu verschaffen, mit der ich die Art fortpflanzen könnte; ich glaube jedoch, ich wäre lieber gestorben, als dass ich die Schande ertragen hätte, eine Nachkommenschaft zu hinterlassen, die wie zahme Kanarienvögel in Käfigen gehalten und mit der Zeit vielleicht als Kuriositäten an Personen von Stande über das Königreich hin verkauft würde.“

Es erinnert an die wunderbare Kurzgeschichte „No Way to Paradise“ von Charles Bukowski (zu finden in der Sammlung „South of no North“), wo ein Mann in einer Bar eine Frau kennenlernt, die ihn zu einem Drink einlädt. Kaum hat die Frau neben ihm Platz genommen, passiert etwas Seltsames:

She opened her purse, removed a small wire cage and took some little people out and sat them on the bar. They were all around three inches tall and they were alive and properly dressed. There were four of them, two men and two women.
"They make these now," she said, "they're very expensive. They cost around $2,000 apiece when I got them. They go for around $2,400 now. I don't know the manufacturing process but it's probably against the law.“

Der Erzähler und die Frau versuchen nun, die kleinen Menschen zum Kopulieren zu bringen. Allerdings streiten sich die Homunculi die ganze Zeit, winzig kleine Beziehungsdramen, so weltbewegend und banal wie in jeder Sitcom, spielen sich auf dem Tresen der Bar und später auf dem Nachtkästchen neben dem Bett ab, am Ende fließt sogar Blut.



Bevor dieses oder ein ähnliches Horrorszenario in allzu unmittelbare Nähe rücken kann, greift das Schicksal, diesmal in Form eines Adlers, ein. Gulliver wird von ihm in einer kleinen Kiste davongetragen und ins Meer fallen gelassen. Er wird von Seeleuten gefunden und nach Hause gebracht. Die Rückkehr nach Hause – sie ist das eigentliche Thema des Buches, es ist der Effekt, der im Leser erzeugt werden soll. Man wird eingetaucht in ein fremdes Element, das Denken verändert sich. Und schließt man das Buch und geht vor die Tür, wirkt die Welt vollkommen verändert:

„Als ich das Schiff zum ersten Mal betrat und Seeleute mich alle umringten, hätte ich nämlich gedacht, es seien die kleinsten, verächtlichsten Geschöpfe, die ich jemals gesehen hätte.“

Der Kapitän des rettenden Schiffes hält Gullivers eigenartige Seh-Verzerrungen, seine Mikropsien, verständlicherweise für ein Zeichen von Wahnsinn, vermutlich verursacht durch allzu lange Einsamkeit auf See. Aber wie damals, als er zum Beweis seiner Reise nach Lilliput einige kleine Schafe vorzeigte, weiß er auch diesmal ein besonderes Beweisstück vorzuweisen:

„Ich zeigte ihm ein Hühnerauge, das ich eigenhändig von der Zehe einer Hofdame abgeschnitten hatte. Es hatte etwa die Größe eines kentischen Pippinapfels und war so hart geworden, dass ich es bei meiner Rückkehr nach England als Becher aushöhlen und in Silber fassen ließ.“

Daran sieht man das Genie von Swift! Ein kentischer Pippinapfel! Yes! Ein weniger begabter Dichter hätte einfach „die Größe eines Apfels“ geschrieben. Und, ja, natürlich versöhnt es ein wenig, zu wissen, dass die ungeheuerlichen Hofdamen von Brobdingnag doch für irgendetwas gut waren.