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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

9. 8. 2011 - 21:02

Journal 2011. Eintrag 150.

Was die beiden zentralen Ereignisse des Jahres (nicht) miteinander zu tun haben.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit dem was die sozialen Aufstände, wie den gerade in London tobenden, und den fundamentalistische Terror, wie er jüngst in Olso geschehen ist, verbindet und was nicht.

Einige Aussagen stützen sich dabei auf Journal 2011, Eintrag 145: Breiviks erster Erfolg im Medien-Mainstream: der Aufschwung der arabischen Moderne ist in unserem kollektiven Bewusstsein wieder vom Bild des Radikal-Islamisten verdrängt worden.

Die Aufrechner und Simplifizierer haben gerade Hochkonjunktur: nach dem Massaker von Oslo kommen jetzt die Straßenschlachten von London in ihre Reichweite; und prompt wird verglichen. Ist ja schließlich alles Gewalt und Terror und überhaupt.

Tatsächlich erzählen die beiden bedeutendsten Ereignisse dieses Jahres (und, nein, die Talfahrt der Weltökonomie ist kein Ereignis, sondern eine Entwicklung) viel Gemeinsames; sie ziehen aber auch eine bedeutsame Trennlinie.

Genauso wie die Revolten im arabischen Raum, der Protest der spanischen Jugend, oder die leicht entzündbare Lage in Griechenland oder Frankreich und an anderen Orten des Globus, sind die akut ausgebrochenen London Riots nicht nur deshalb klar fassbar, weil man sie (wie Kollege Rotifer) vorhersehen konnte, sondern auch rein strukturell von einer neuen Qualität.

Die inhaltliche Diffusität der London Riots

In allen Fällen hat sich aus einer Situation, in der es (aus politischen oder ökonomischen Gründen) einer ohnehin bereits unterdrückten oder unterprivilegierten Gruppe von Menschen gereicht hat, eine (durch die neuen Medien viel problemloser) kanalisierbare Wut aufgerichtet und sich geäußert. Nicht immer, aber meist gewaltsam - im arabischen Raum (aus logischen Gründen) sowieso, jetzt in London, anders als in Madrid oder Barcelona, auch.

Die Wut und die Gewalt richten sich im Gegensatz zu den arabischen Potentaten der älteren Schule in Europa gegen niemanden Bestimmten, am ehesten noch "das System" - wobei diesen neuen Protestierern aber zumeist klar ist, dass die Regierungen nicht den richtigen Addressaten darstellen, sondern eher die Machtstrukturen dahinter.
Weil die diffus und nicht zu greifen sind, ist auch der Protest diffus und manchmal absurd. Das macht ihn unberechenbar und gefährlich und - wie in London - auch instrumentalisierbar für trittbrettfahrende Marodeure.

Keine Forderungen, nur das Aufzeigen der Unzumutbarkeit

Im Kern sind aber alle Proteste, alle Erhebungen die direkte Folge der politischen und sozialen Verengung und Erkaltung; Kollege Rotifer zitiert in diesem Zusammenhang den stockkonservativen und also unverdächtigen Telegraph. Die Menschen rebellieren, weil es ihnen echt Scheiße geht, weil das Vertrauen in den Staat und - vor allem im aktuellen Fall London - die Polizei - verloren gegangen ist.

In Ägypten oder Spanien hatte man noch ein Programm, konkrete Anliegen - aber schon die spanischen Studenten wußten, dass sie ihre Verbesserungs-Vorschläge vor allem als Seminar-Arbeiten für sich selber gestalteten, ohne Chance auf Umsetzung.

In London fehlt das alles bereits, wie damals in Paris: kein Programm, keine Forderungen. Es geht nur noch darum, den Unwillen über die Unzumutbarkeit der Situation so deutlich wie möglich zu artikulieren.

Bewusste und unbewusste Destabilisierung des Systems

Der Zweck der Gewalt, die von der fundamentalistischen Rechten kommt, ist da schon viel klarer definiert, auch in ellenlangen Bekennerschreiben: Die Destabilisierung des Systems (und seine Überwindung samt Errichtung eines radikalchristlichen Kalifats).

Und eigentlich, so rechnet das Milchmädchen, müssten sich die gewaltbereiten Bewegungen hier, im quasi ideologiefreien, übergreifenden Raum doch treffen.

Tun sie aber nicht.
Die in England recht umtriebige und auch von Breivik als vorbildhaft behandelte rechtsextreme Szene hat mit den Riots nichts zu schaffen. Und das nicht, weil die Aufrührer "Linke" wären.
Sondern weil der Antrieb dieser völlig uneinschätzbaren Rebellierenden ein ganz anderer ist.

Der Kreuzritter-Terror basiert auf rein virtuellen Szenarien

Die Riots entstehen aus einem konkreten Bedürfnis angesichts einer konkreten, die Lebensqualität der Einzelnen stark bedrohenden Situation.

Der Kreuzritter-Terror entsteht aus einer verquasten Theorie bar jeder Lebenspraxis, aus rein virtuellen Bedrohungsszenarien.
Da können Parlamentspräsident und Königstiger noch so viel an der Theorie hinter den Osloer Geschehnissen goutieren; deren Künstlichkeit bleibt der Schwachpunkt.

Das bedeutet auch, dass die Hoffnung Breiviks auf eine Armee vieler Gleichgesinnter auf schwachen Beinen steht. Denn während die tatsächliche ökonomische wie politische Bedrohung Aufstände und Revolten nach sich zieht, wird die virtuelle, rein ideologisch konstruierte Bedrohung nur von armseligen Amokläufer entgegnet.
Alles andere wäre auch absurd.

Breivik existiert nicht ohne seine Hintermänner

Der rechtsextreme Terror hat deshalb keinen Massen-Appeal, weil seine Parolen lebensfremd sind.
Das Rioting britischer Prägung hingegen hat das Potential, sich in den nächsten Monaten über fast den ganze Planeten zu verbreiten - jedenfalls überall dorthin, wo bewusst Problemzonen geschaffen wurden.

Sicher: der ungarische Weg in die Postdemokratie zeigt, dass es immer noch genügt, gegen Roma und Juden zu hetzen, um den "Druck der Straße" zu erhöhen und so Mehrheiten hinter sich zu bringen.
Nur: um den Sündenbock-Schmäh nach altem Rezept einzusetzen, braucht es aber gezielte politische Arbeit, Mobilisierungs-Potential und diverse Anreize (Karriere-Settings innerhalb einer Überwachungsgesellschaft etwa).

Erst der politische Arm instrumentalisiert die Bewegung

Denn während die aktuellen Aufstände über keinen politischen Arm verfügen (nicht einmal die lose organisierten Globalisierungs-Gegner haben da mitzuplaudern) und damit auch nichts anfangen würden können, ist der rechtsextreme Terror untrennbar mit seinen ideologischen Hinterbänklern verbunden. Eine Bewegung, die auch in den nächsten paar Jahrzehnten immer nur aus Fuchses und Breiviks bestehen wird, kann sich nur auf politischem Weg verbreitern. Sie braucht die Hass-Prediger und die populistische politische Praxis, um sich Gehör zu verschaffen, um einzusickern.

Deshalb ist der gezielte, der scheinbar vereinzelte und eh von allen selbstverständlich abgelehnte Terror so viel gefährlicher, als das wildest-vorstellbare Rioting mit übler Destruktion und bösem Death-Toll - denn das verfolgt keine politischen Ziele, es strebt nicht nach Macht oder Umsturz im großen Stil. Diese Ziele bleiben den Hinter- und Dunkelmännern der Breiviks vorbehalten.