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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

10. 8. 2011 - 12:49

"Ans Meer gehen"

Die Hitze in den bulgarischen Plattenbausärgen ist nicht mehr auszuhalten. Höchste Zeit für einen Ausflug an die Schwarzmeerküste.

Das "ans Meer gehen" ist ein Ritual, das der Bulgare im Sommer so gut wie nie auslässt. Es gibt nichts Wichtigeres, als wenigstens für einen Tag seinen Hintern im Pontos Euxeinos, besser bekannt als das Schwarze Meer, nass zu machen. Die Hoffnung, dass dieser Tag kommen wird, gibt den Bulgaren die Kraft, den Winter zu überstehen. Für eine kurze Zeit hören die Menschen massenweise auf, auf die helle kapitalistische Zukunft Bulgariens zu bauen und stürzen sich wie verrückt auf die ungefähr 350 km lange Schwarzmeerküste.

Der bulgarische Ort Nessebar

http://www.flickr.com/photos/todpetkov/

Wir fahren mit meinem Freund Georgi ans Meer. Georgi wohnt seit Jahren in Österreich und will mir seine Heimatstadt Nessebar zeigen. Nichts wünscht sich Georgi mehr, als wieder auf dem Stück Strand zu liegen, wo er einst seine Jungfäulichkeit mit einer polnischen Touristin verloren hat. Als wir Nessebar erreichen, suchen wir vergebens stundenlang nach diesem legendären Ort. "Ich habe es gefunden!", schreit plötzlich Georgi auf. Sein Blick zeigt aber alles andere als Freude. Dort, wo früher Georgi allein mit seiner Urlaubsliebe gelegen hat, steht jetzt eine neue Stranddisko. Das Geschrei der Möwen wurde durch David Guetta-Hits ersetzt. Romantik ist nicht mehr das, was sie einmal war.

Das Schwarze Meer ist für die Bulgaren nicht nur eine nahe Urlaubsmöglichkeit. Für Viele ist es vor allem ein Mittel Geld zu verdienen. Schon vor der Wende waren die Kurorte Goldstrand und Albena ein beliebtes Reiseziel für Touristen aus der Sowjetunion, der DDR und anderen brüderlichen sozialistischen Ländern. Nach 1989 haben die billigen All-inclusive Angebote vor allem Urlauber aus Deutschland, England und Skandinavien angelockt.

schwarzmeerküste

http://www.flickr.com/photos/d3l/

Die Schwarzmeerküste ist zum leckersten Bissen aus dem bulgarischen Wirtschaftskuchen geworden. Ehemalige Politiker und Businessmen mit Mafiaverbindungen haben ihr Geld in Hotels, Shoppinzentren, Diskos und Aquaparks investiert. Nach mehr als 20 Jahren Demokratie ist die Schwarzmeerküste kaum wiederzuerkennen. Die einst einsamen Buchten sind jetzt voll mit Jetskis und Bannanenbooten. Städte wie Nessebar und Sozopol waren früher für ihre antike Architektur bekannt. Heute wird man dort an jeder Ecke aufgefordert, sich ein "authentisch bulgarisches" aufblasbares Krokodil zu kaufen.

Die rasche und hässliche Bebauung der Schwarzmeerküste hat viele Bulgaren dazu gebracht, ihr Urlaubsglück im benachbarten Griechenland zu suchen. Für alle, die für "ihr Meer" nicht bezahlen wollen, bleiben wenige unbebaute Strandoasen wie Irkali und Karadere zwischen den zwei größten bulgarischen Meeresmetropolen Burgas und Varna und die Strände ganz südlich oder ganz nördlich an der Grenze zur Türkei und Rumänien.

Boote in Sozopol

http://www.flickr.com/photos/willwill91/

Kurz vergessen

Nur dort kann man das Meer immer noch ohne Strandliegen und Houseclubs genießen – dank der Wirtschaftskrise, denn sie hat den Bau von weiteren Urlaubspalästen, wie zum Beispiel im ehemaligen Naturschutzgebiet Emona-Irkali, verhindert.

Georgi und ich setzen uns in eine Bar in Nessebar, von der aus wir das Meer anschauen können. Jeder von uns bestellt einen "Oblak" – der beliebteste Sommercocktail in Bulgarien. 50 Milliliter Mastika – der Anisschanps, der in Griechenland als Ouzo und in der Türkei als Raki bekannt ist und 50 Milliliter Menta – ein Pffefferminzlikör. Wir trinken unser "Oblak" und schauen aufs Meer. Auf unser Meer, das unsere Eltern ihr Plattenbauleben vergessen ließ. Langsam fangen auch wir an, unser armseliges Migrantenleben zu vergessen. Ich werde immer "ans Meer“ gehen". Wenigstens für einen Tag.