Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Fernseh-Hubschrauber über Hackney Central"

Florian Obkircher London

Stadtstreifzüge. Zwischen Disse und Gosse, zwischen Hackney und Herne Hill.

9. 8. 2011 - 17:34

Fernseh-Hubschrauber über Hackney Central

Gegen 16.00 Uhr twittert gestern ein Nachbar: Bin gerade rübergegangen um mir selbst ein Bild zu machen, und es stimmt: Meine Hauptstraße wird gerade in Kleinholz verwandelt.

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Die Fernseh-Hubschrauber kreisen schon über Hackney Central – und die Bilder sind unglaublich. Binnen fünf Stunden hat sich meine Busstation in ein Schlachtfeld verwandelt. Eingeschlagene Schaufenster, ein Doppeldeckerbus wird attackiert. Mit Brettern, die maskierte Typen aus dem aufgebrochenen Laderaum eines Lasters geklaut haben, kommentiert der BBC-News-Sprecher.

Am Samstag war das irgendwie noch alles weit weg. Wir sahen die Fernsehbilder der brennenden Häuser in Tottenham bei einem Nachtsnack zwischen zwei Partys. Tottenham? Gibt’s das? Voll schlimm, ist ja gleich ums Eck. Aber ganz ehrlich, auch wenn Tottenham nur einige Kilometer Luftlinie nördlich liegt, die soziale Realität in Hackney, vor allem im Hipster-Eck Broadway Market ist eine ganz andere. Dachten wir.

Um 16.30 Uhr dann die ersten Kurznachrichten von Freunden: "Schalt den Fernseher ein!", "Kannst gern bei mir pennen heute". Oder: "Meide Mare Street!". Mare Street ist eine der Hauptschlagadern des Stadtteils Hackney im Osten Londons. Eine belebte Geschäftsstraße mit etlichen Chicken-Shops und Off-Licences, die Hackney Central mit dem etwas südlicheren Stadtteil Bethnal Green verbindet. Nicht gerade die Oxford Street, aber alles andere als gefährlich.

Brand bei den Unruhen in London

EPA

Ausweichrouten, um nach Hause zu kommen, gibt es allerdings wenige. Vor allem, weil der Busverkehr eingestellt ist. Also per U-Bahn nach Bethnal Green. Mal schauen. Mal schauen, ob's echt so arg ist.

Der Weg die Mare Street hinauf hat etwas Gespenstisches. Ausnahmslos alle Shops sind geschlossen, wer Rollläden besitzt, hat sie heruntergelassen. Wer keine hat, steht besorgt oder mit Baseballschläger bewaffnet davor. Eine Tankstelle – offensichtlich vor kurzem geplündert – ist mit Brettern verbarrikadiert. Wenig Autos auf der Straße, Doppeldeckerbusse parken auf der Seitenspur zwischen besetzten Polizeitransportern. In einem Zug aus Schaulustigen, Leuten am Heimweg von der Arbeit und maskierten Jugendlichen pilgere ich Richtung Hackney Central. Einer telefoniert hinter mir. "Jetzt geht’s überall los. Croydon, Lewisham, Hackney. London brennt!"

Das Szenario ist unwirklich. Umgetretene Glascontainer und Mistkübel, Rauchgeruch, eingeschlagene Schaufenster. Einige Mode-Läden hat's erwischt, den Juwelier, sogar einen Imbiss. Seltsame Wahl. Doch der große Tornado scheint weitergezogen zu sein. Geblieben sind Horden von schwer ausgerüsteten Cops, Bewohner und Schaulustige, die ihre Handy-Kameras auf alles richten, was nach Riots aussieht und vier Fernsehhubschrauber über Hackney Central, die für die bedrohliche Geräuschkulisse sorgen. Der Rauch etwas westlich deutet an, dass der Mob wohl weiter gezogen sein dürfte, weiter Richtung Dalston.

Um 19.00 komme ich daheim in Homerton an. Nur fünf Gehminuten entfernt ist von den Krawallen kaum etwas zu spüren. Hier, in dieser ärmlichen Wohngegend mit gerade ein paar Off-Licences gäb's aber auch wirklich nicht viel zu holen. Die WG ist im Wohnzimmer versammelt – und diskutiert.

  • Unglaublich, dass die Leute ihr eigens Viertel zerlegen.
  • Den schaulustigen Hipsters in London-Fields stehlens angeblich Gangs gerade die Fahrräder unterm Arsch weg.
  • Ich hab das irgendwie schon kommen sehen. Gerade auf der Mare Street. Diese Spannung, diese Aggression ist seit Monaten angewachsen.
  • Eine Schande ist das. Dass die Kids in den Sommerferien nichts Besseres zu tun haben.
  • Hast du das gehört? Die türkische Community verteidigt gerade Daltson!
  • Dass die Riots total willkürlich sind, siehst du allein daran, dass McDonalds und Marks & Spencer verschont geblieben sind, das hat nichts Politisches. Und schon gar nichts mit dem Tod von Mark Duggan zu tun.
  • Klar ist das schlimm, du darfst aber nicht vergessen: Den Leuten geht’s dreckig. Die Budget-Kürzungen, die geschlossenen Jugendzentren. Die Krawalle jetzt sind nur das sichtbare Symptom. Siehe Studentenproteste.
Polizei bei den Unruhen in London

EPA

Gegen 23 Uhr scheint die Situation laut BBC News im Süden gerade zu eskalieren, Hackney aber ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Ich mache mich also auf, um eine besorgte Freundin westlich der Mare Street zu besuchen.

Die Nebenstraßen sind leer. Wenige Autos passieren. Lediglich Polizeibus-Karavanen mit Sirenen oder tiefer gelegte Karren mit runtergelassenen Scheiben und lauter Musik. This town, is coming like a ghost town.

Nahe der Hauptstraße parkt ein Polizeiwagen hinterm Tesco-Supermarkt. Die Cops schleichen zum Vordereingang. Dann ein Schrei. Hey! Duzende Kapuzenträger verschwinden in der Dunkelheit, die Polizisten nach.

Zeitgleich sprinten drei Typen mit Klamotten unterm Arm nebenan über die Mare Street. Die Rollläden eines Modeladens neben dem Theater Hackney Empire sind aufgebrochen, Scherben, die Alarmanlage brüllt, Polizeisirenen.

Ein Haufen Schaulustiger steht gegenüber vom Geschäft, in der einen Hand die Bierdose, in der anderen die Handykamera. "Halt drauf", sagt eine Anfangzwanzigerin zu ihrer Freundin mit irrem Grinsen. Während auf der anderen Straßenseite der Laden ausgeräumt wird, unterhält man sich hier über diese unglaubliche Nacht. Typen mit Hoodies und verhülltem Gesicht mischen sich hier mit Schaulustigen, sprechen über die Plünderungen und darüber, wo’s gerade brennt. Dazwischen die Polizei, die versucht, noch einige der "Looters" zu erwischen.

Eine morbide Straßenparty, die mit den Einsatzkräften durch die Nachbarschaft zieht. Fast wie die TV-Show "COPS", nur in Echt. Und der Schauplatz hat schon wieder gewechselt. "Burberry, Chatham Place!", ruft einer, die Meute zieht weiter – zu besagtem, keine drei Minuten entfernten Geschäft, wo die Cops gerade zwei Einbrecherinnen festnehmen. "Halt drauf!"

Ein Haus nach einem Brand in London

EPA

Heute Morgen ist die Mare Street erstaunlich aufgeräumt. Die Sonne scheint, die Scherben sind weggekehrt, der Rauchgestank verschwunden. Nicht zuletzt wegen den Aufräumarbeiten, die gerade im Gange sind, organisiert von Anrainern via Twitter. Ein wichtiges Zeichen der Solidarität in der Community.

Doch ganz war's das noch nicht. Gerade eben kommt ein SMS von meinem Mitbewohner. "Meide London Fields. Offensichtlich geht’s wieder los." Und die TV-Hubschrauber kreisen schon wieder über Hackney.