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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

8. 8. 2011 - 22:07

Journal 2011. Eintrag 149.

Asterios Polyp. Der Quantensprung in der Geschichte der Graphic Novel.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit der besten Graphic Novel seit Langem.

Das Cover von Asterios Polyp

eichborn

Es war vorletztes Wochenende, auf einer Zug-Rückfahrt nach Wien, als mir das deutsche Feuilleton in seltener Einigkeit eine Graphic Novel ans Herz legte, etwas, was die Franzosen Bande Dessinee nennen und als achte Kunst bezeichnen, etwas, was im deutschsprachigen Raum immer noch recht holprig als Comic bezeichnet wird.

Asterios Polyp von David Mazzucchelli, der schon mit einer Paul-Auster-Verbilderung und vor allem mit einer Batman-Arbeit auffällig wurde, so erzählte mir da die Süddeutsche oder der Tagesspiegel (und wie ich später erfahre, hätte mir die Welt ähnliches gesagt), wäre ein Ausnahme-Werk, wie man es nur alle paar Jahre sehen würde, wie Spiegelmans Maus oder Satrapis Persepolis.

Ein vielschichtiges, komplexes Buch, das eine wesentliche Geschichte erzählt, und das eben mit der Kraft der Bilder tut.

Ich habe dann auf die Entsprechung in den heimischen Medien gewartet - es kam aber (mit Ausnahme von Walter Titz in der Kleinen Zeitung und des immer vorab lebenden Magazins TheGap) nichts.

Von Batman über Rubber Blanket zum großen Roman

Denn im Gegensatz zur deutschen Betrachtungsweise, wo zwar auch schon zuerst das distinguierte Naserümpfen und erst dann die neugierige Beschäftigung mit anderen Formaten kommt, ist die österreichische Kultur-Kritik ja immer noch freiwillig in den 50er-Jahren angesiedelt, und träumt davon Hans Weigels Wiedergänger zu sein. Die Beobachtung dessen, was an kulturell Spannendem passiert begnügt sich in den Torsi, die hierzulande unter "Kultur" (und zurecht nicht unter Feuilleton, das wäre tatsächlich eine Erfrechung) laufen ohnehin in ödesten Rezensions-Flächen, insofern wäre es ja ein leichtes, sich wenigstens diesbezüglich zu orientieren.

Andererseits: In einem Land, das den besten Comic-Fachmann dazu zwingt seinen Lebensunterhalt mit ankowitschianischen Kompendien nutzlosen Wissens zu verdienen, war da auch nichts anderes zu erwarten.
Nicht dass ich da ein Super-Auskenner wäre: Meine großen Comic-Kenner-Zeiten hab ich längst hinter mir; die lagern irgendwo in den Kisten, die ich nach dem letzten Umzug gar nicht mehr ausgepackt habe. Wenn mir heute junge Fachkräfte von den Unbedingtheiten erzählen, kann ich die Bedeutung auch nur erahnen.

Nach Maus und Persepolis kommt Asterios Polyp

Allerdings bleibt die Beschäftigung mit Comics, mit BD mit der Graphic Novel dadurch halt der Nische, dem Underground vorbehalten. Und das ist vor allem deshalb absurd, weil der Mainstream sich ja stets von Neuem außerhalb seiner eigenen (schmalen) inhaltlichen Reichweite nährt, und deshalb der Input seiner ureigenen Kulturressorts genau dafür zuständig wäre.

Asterios Polyp ist kein Massenprodukt wie der einzige Comic der in den letzten Jahren österreichweit mediale Beachtung fand, auch kein Superhelden-Heft, das entweder beschissen oder so lala verfilmt wird, und schon gar kein in ein paar Jahren für den Schulunterricht einsetzbares Geschichtsbuch, wie die bereits erwähnten Beispiele Persepolis oder Maus.

Mazzucchelli hat zu viel hineingepackt in seine weit über 300 unnummerierten Seiten: ein Menschenleben, eine Denkschule, ein Schicksal.

Der traditionelle Roman und das Design-Traktat

Asterios Polyp ist nichts anderes als ein Roman, der seine Geschichte nicht ausschließlich mit Text. (obwohl: Es gibt Text satt in dieser Story), sondern mit Bildern, mit Farben, mit grafischen Spielereien und stilistischen Tricks ohne Ende erzählt. Und da reicht dann eine Doppelseite mit fast dreißig kleinen Bildern aus, um die Alltags-Geschichte des Ehelebens zwischen Asterios und Hana zu beschreiben. Und vier Bilder der immer in derselben Pose befindlichen Hana, mit jeweils nur ganz leicht verändertem Text, genügen um die Abnutzung klarzumachen: "Man muss nur ein wenig aufpassen." - "Man muss nur ein wenig besser aufpassen."- "Du musst nur ein wenig besser aufpassen." - "Du passt einfach nicht genug auf."

Asterios Polyp verhandelt neben dem alltäglichen Scheitern seiner ohne Selbstzweifel und auch ohne viel Lernwilligkeit durch einen Schicksalsschlag stapfenden Hauptfigur diverse große Fragen: Ist die Realität nur ein Fortsatz des Selbst? Kann der Weltentwurf einer Person eine andere beeinflussen? Hat Franz von Assissi jemals eine Mücke erschlagen? Soll man Sternkonstellation nicht mit Sternzeichen verwechseln? Ist alles was nicht funktional ist, lediglich dekorativ? Ist das Yin/Yang nur eine Erfindung, die wir angesichts einiger hübscher Beispiele für wahr halten? Warum wollen wir uns immer zwischen Positionen entscheiden, anstatt in einer Sphäre von Möglichkeiten zu leben?

Das filmische Element und die Versink-Qualitäten

Diese Themen poppen nebenbei auf, neben Polyps Erkundung des anderen Amerika, nachdem er seinen akademischen Zirkel verlassen hat, in Gesprächen mit seinem bei der Geburt gestorbenen Zwilling oder der Frau seines Logis-Gebers, die sich für eine wiedergeborenen Göttin hält und anderen, immer nur scheinbar zufälligen Episoden mehr.
So ziemlich jedes Bild, so ziemlich jede kleine Handlung, so ziemlich jeder Satz erfährt irgendwann im weiteren Verlauf eine Entsprechung oder Referenz.

Dazu kommt die Variabilität der Bildsprache, die uns Erzählpositionen, Stimmungen und Lebensprinzipien vermittelt, weit über das leitmotivische in Filmmusik hinausgehend - und das hebt diesen graphischen Roman aus der Masse der unpräzis gefertigten Menschen-Darstellungen, die wir sonst wo geliefert bekommen, deutlich heraus.

Asterios Polyp von David Mazzucchelli, übersetzt von Thomas Pletzinger, 344 Seiten, 29.95 Euro, ist im August bei Eichborn erschienen.

Asterios Polyp hat Versink-Qualitäten, wie sie ein Lesebuch hat, und es besitzt eine optische Aura der sofortigen Wiedererkennbarkeit - eine Graphic Novel, die das Beste des Romans und das Entscheidende des Films kombiniert.

Unendlicher Spaß am Quantensprung

Was David Foster Wallaces "Infinite Jest" für die neuere Literatur war (ein Quantensprung nämlich) ist Asterios Polyp für die Graphic Novel, den Comic, sagt der SZ-Rezensent. Das ist insofern symptomatisch als nämlich Wallace' Romane bis zu seinem Tod 2008 im deutschen Sprachraum kaum Bekanntheit und keine Übersetzung hatten. Insofern ist die 50er-Jahre-Positionierung der hiesigen Kultur-Berichterstatter dann auch wieder nicht ganz so schlimm.