Erstellt am: 6. 8. 2011 - 16:52 Uhr
Begräbnis einer Unbekannten
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"Sie hat uns verlassen", stand auf dem Telegramm, das Lorenzo eines Tages in Rom bekommt. Dazu ein Beerdigungstermin und eine Adresse in Bukarest. Die Nachricht vom Tod seiner Mutter Lula trifft Lorenzo aber nicht besonders. Ihn hat sie schon viel früher verlassen, vor Jahren, als sie mit ihrem Geliebten nach Rumänien gegangen ist, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Für ihn ist sie eine Unbekannte.
dtv
"Lorenzos Reise" von Andrea Bajani ist von Pieke Biermann übersetzt worden und im dtv-Verlag erschienen.
Für Lorenzo ist die Beerdigung ein Pflichttermin, den er rasch hinter sich bringen will, aber das ändert sich, als er von den Umständen ihres Ablebens erfährt. Vereinsamt und verwahrlost ist sie gewesen, aufgedunsen und stinkend, dauernd dicht, als sie der Tod ereilt hat, eine gescheiterte Existenz. Erst nach Tagen, als ihr Geruch schon unter den Türen durchgekrochen war, haben die Nachbarn Alarm geschlagen.
Willkommen in Rumänien
In den wenigen Tagen, in denen Lorenzo in Rumänien ist, lernt er ein Land kennen, das vom Kommunismus in einen Neokolonialismus getaumelt ist. Deutsche, Franzosen und Italiener haben das Land unter sich aufgeteilt und führen sich wie Kolonialherren auf. Sie leben in Dekadenz und behandeln die Rumänen als Arbeitstiere oder Sexualobjekte, lassen sie aber in jedem Augenblick ihr Gefühl für ihre Minderwertigkeit spüren.
Nicht nur, dass sich die Rumänen nicht dagegen wehren können. Sie haben die Ansichten der Kolonisatoren sogar verinnerlicht, etwa dass sie geldgeil wären oder allesamt nicht richtig arbeiten könnten. Sie sind duckmäuserisch und haben sogar verlernt, auf etwas stolz zu sein.
Wie konnte es Lula hier aushalten, besonders, nachdem ihr Geliebter sie durch eine junge Rumänin ersetzt hat? Warum ist Lula nicht zurück nach Italien gegangen, wenn es ihr dort so schlecht gegangen ist, wenn sie so einsam war? Warum hat sie nicht einmal angerufen? Lorenzo kann nicht begreifen, wie es seine Mutter hier noch aushalten konnte.
Spurensuche
Ornella Orlandini
Lorenzo beginnt nachzuforschen, in seinen eigenen Erinnerungen und durch Gespräche mit Freunden seiner Mutter. Er will die Person verstehen lernen, für die er jahrelang nur mehr Verachtung übrig hatte, will verstehen, warum sie ihn verlassen und sich danach selbst zerstört hat.
Er findet eine Frau, die von Selbstzweifeln und Unsicherheiten getrieben wurde. Bereits als Kind als „Produktionsfehler“ tituliert, ist sie von einem Fettnapf in den nächsten getreten und statt sich da wieder rauszuziehen, ist sie immer nur davongelaufen. Vor einem Leben in Harmonie und Eintracht, vor einer heilen Familie, vor ihrem Sohn. Sie wollte glücklich sein, ist sich aber selbst im Weg gestanden. Je länger sich Lorenzo mit seiner Mutter beschäftigt, desto mehr kommt er mit ihr ins Reine.
In lakonischen Sätzen lässt Andrea Bajani Lorenzo sich direkt an seine Mutter wenden, um sich mit der Verstorbenen auszusöhnen. Die Stimmung, die dadurch erzeugt wird, trägt den Roman. Emotional sind die Szenen aus der Kindheit, in der Lula die Rolle der liebevollen Mutter scheinbar perfekt erfüllt, grob die Beschreibungen des rumänischen Alltags. Davon möchte man gerne noch mehr lesen.