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Clemens Setz

Schriftsteller und Übersetzer

4. 8. 2011 - 14:33

Insekten und Läuse

Mit Clemens Setz auf "Gullivers Reisen". Teil 6: Wie sich Gulliver fürchtet und ekelt. Eine Sommer-Mit-Lese-Aktion.

Ich liebe mikroskopische Aufnahmen von Betten und Kopfpolstern oder von menschlicher Haut. Diese wunderbaren Mondfahrzeuge und Aliens, die dort wohnen und herumwandern! Ständig auf der Suche nach toten Hautschuppen, ihrer Lieblingsmahlzeit... Obwohl sich schon irgendwas in mir umdreht, wenn ich solche Bilder sehe, habe ich es doch nie geschafft, mich zu ekeln. Das Gefühl ist eher eine stille, kleine, kompakte Ekstase. Eine Ekstase im Wasserglas, sozusagen.

staubmilben unterm mikroskop

dustmitemagic.com

Als Kind war diese Fähigkeit bzw. Unfähigkeit bei mir noch weiter ausgeprägt, damals konnte ich das Dermatologiebuch meiner Mutter durchblättern und mich an den herrlichen Farben (rot, schwarz, rosa, weiß) erfreuen, die auf dem menschlichen Körper gedeihen.

Der Ekel, den der ewige Untergebene Gulliver ("Ich verbeugte mich bis auf die Platte des Tisches und erwiderte demütig, dass ich der Sklave meines Herren sei; wenn ich jedoch über mich selbst verfügen könnte, so würde ich stolz darauf sein, mein Leben dem Dienst Ihrer Majestät zu widmen") in den folgenden Kapiteln kennen lernt, hat natürlich auch – wie die fantastischen Milben, die zwischen den (für sie) baumstammdicken Haaren meines Oberarms oder meines Kopfes herumgehen, treue Hausmeister und Platzwarte meiner Haut – ein ungeheures poetisches Potenzial.

Doch bevor Gulliver den Bewohnern des Hofes, die ihm diesen besonderen ekstatischen Ekel mit all seiner überraschenden Poesie beibringen werden, nahe kommen kann, muss noch ein ganz bestimmter Zweifel aus der Welt geschafft werden:
"[Der König dachte], dass ich wohl eine Art Uhrwerk sei (diese Kunst hat in jenem Land eine sehr große Vollkommenheit erreicht), das irgendein erfinderischer Künstler ersonnen habe."

automaton

fedbybirds.com

Also wohl so etwas wie die Automata des 17. und 18. Jahrhunderts wie Monsieur de Vaucansons mechanische Ente oder der berühmte "Schachtürke" von Wolfgang von Kempelen. Vielleicht spricht auch Gulliver mit einer mechanischen Vorrichtung, die in etwa dieser Sprech-Maschine von 1791 gleicht?

Doch eine Untersuchung durch Gelehrte im Dienste des Hofes ergibt, dass es sich bei Gulliver um ein durchaus intelligentes Lebewesen handeln muss, er kann Löcher in der Erde graben, er reagiert vernünftig auf Zeichen, die man ihm gibt, außerdem sind seine Glieder vollkommen ausgebildet (was gegen die Hypothese eines Wissenschaftlers spricht, bei dem kleinen Wesen handle es sich womöglich um einen verirrten, sozusagen zu früh ins Leben getreten Embryo).
Die Königin findet Gefallen an dem kleinen Menschen und amüsiert sich über seine Furcht vor Insekten, die ständig kommen und (unsichtbar für die Königin, doch mehr als sichtbar für Gulliver) ihre Exkremente oder ihre Eier auf seinen Speisen ablegen. Wenig später sieht Gulliver im Palast der Königin einige Bettler. "Hier stand ein Weib mit einem Krebsgeschwür an der Brust, die zu ungeheuerlicher Größe angeschwollen und voller Löcher war. In zwei oder drei davon hätte ich ohne Schwierigkeiten hineinkriechen und mich ganz darin verstecken können." Was für ein unglaubliches Bild! Könnte direkt aus Burroughs' Naked Lunch stammen...
Am schlimmsten allerdings – aber auch am faszinierendsten – sind die Läuse: "Ich konnte die Glieder dieses Ungeziefers mit bloßem Augen deutlich sehen." Und: "Es waren die ersten, die ich jemals gesehen hatte, und ich wäre wissbegierig genug gewesen, eine von ihnen zu sezieren, wenn ich nur geeignete Instrumente gehabt hätte."

Doch eines steht Gulliver noch bevor: Die feinen Damen des Hofes werden den kleinen Mann für sich entdecken. Und was sie mit ihm anstellen werden, stellt sogar den Anblick der Läuse in den Schatten...

laus auf einem haar unter mikroskop

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