Erstellt am: 11. 8. 2011 - 12:57 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (24)
marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Montag, 01. August
■ Im August wird auf Warmwasser verzichtet. Vor allem bezüglich Körperpflege. Kochen oder Waschen ist beispielsweise erlaubt. Es handelt sich also um eine einigermaßen beknackte Entsagung, die der Erquickung und einem beschwingten Kreislauf dienlich sein möge.
■ Setze endlich die lange gehegte Idee um, Battle-Rap-Lyrics zu verfassen, welche zwar inhaltlich jedes Klischee erfüllen, aber in ausgesprochen gewählter Sprache und zuvorkommender Haltung vorgetragen werden
Titel: "Der höfliche Rapper aus gutem Hause schreitet zum Battle."
Kurze Kostprobe:
Zuallererst weise ich Sie darauf hin,
dass ich der bessere Sprechsänger bin.
Die Texte, die ich so gekonnt deklamiere,
sind dreister, gewitzter und schöner als Ihre
und wenn ich sie vortrage, kommt es zuweilen
zu Stürmen des Jubels und manchmal bei Teilen
des Publikums durchaus zu Ohnmachtsanfällen,
besonders an inhaltlich knusprigen Stellen.
Hinzu kommen Technik und auch die enorm
aparte und zweifellos kunstvolle Form
in die ich selbst prickelnde Inhalte hülle.
Und nicht zu vergessen: Die prächtige Fülle
an Rhythmen und Klängen, zumeist digitalen,
die stets meine Rezitation untermalen.
Dienstag, 02. August
■ Leider an dieser Stelle nicht mehr nachzulesen, weil das Lektorat nach einigen Stunden doch seines Amtes waltete, aber da stand:
"Mit den schwindenden Kräften ist es dann auch schwieriger geworden, die Abwehr zusammenzuhalten und diese Fallangst von Topspielern unter Kontrolle zu halten." (Andreas Heraf)
Minutenlang hörte sich der Praktikant in Unkenntnis des Wortes "Phalanx" die Stelle wieder und wieder an und zerbrach sich über die scheinbare Sinnlosigkeit des Satzes den Kopf. "Aber er sagt doch Fallangst, verdammt noch mal", entschloss er sich schließlich, die Stelle nach bestem Wissen zu transkribieren.
■ Nachdem mir Kollege Wurm am Flohmarkt „Wetten, dass…? Das DVD-Spiel“ gekauft hat, sehe ich mich zuerst gezwungen, das Spiel auszuprobieren und nach drei Stunden zweisamer Selbstdemütigung meinen gewohnten journalistischen Grundsätzen untreu zu werden und eine gänzlich unsachliche und wütende Rezension zu verfassen, die im Wesentlichen mit „So ein Scheiß“ zusammenzufassen wäre.
Doch die Meinungen gehen auseinander.
Mittwoch, 03. August
marc carnal
■ Der Warmwasser-Verzicht bringt die bisher größten Überwindungs-Momente mit sich. Aus dem wohlig warmen Himmelbett ins Bad zu trotten und sich unter eiskaltes Wasser zu stellen, ist slightly uneasy.
Es hat keinen Sinn, den schmerzhaft kalten Duschstrahl langsam den Körper nach oben wandern zu lassen. Augen zu, aufdrehen, Augen aufreißen, Herz-Stakkato, lautloses Schreien, Atemnot. Nach fünfzehn Sekunden geht es einigermaßen und die Morgenroutine wird eiligst erledigt.
Verharre ich für gewöhnlich fidel über alle Maßen der Zweckmäßigkeit unter der Brause, ist nun jede Sekunde eine zu viel.
Kaltes Duschen ist das Koffein der Harten.
■ Der Elisabeth T. Spira – Do it yourself – Fragenkatalog:
Sind Sie sehr einsam?
Sind sie oft traurig, weil sie so einsam sind?
Sie hätten gerne eine Frau, oder?
Was bedeutet denn Liebe für Sie?
Ist es schlimm, jeden Tag alleine aufzuwachen?
Wie soll er denn sein, der Traumpartner?
Wie war das für Sie, dass sie Ihr Mann betrogen hat?
Die Tage vergehen langsam, wenn man ganz alleine ist, oder?
Wollen Sie sich noch mal so richtig verlieben?
Wie lange sind sie denn schon so einsam?
Weinen Sie oft?
Donnerstag, 04. August
■ Frage an der Information im Thalia, dem McDonald's unter den Buchhandlungen, ob es ein allumfassendes, im Stile eines medizinischen Lexikons gestaltetes Verzeichnis sämtlicher sexueller Spielarten gibt.
Nach kurzer Irritation möchte das der Mitarbeiter ebenfalls wissen, recherchiert nach all seinen Möglichkeiten, muss mir aber mitteilen, dass zumindest in den letzen zwanzig Jahren kein derartiges Werk entstanden ist.
Scherz-Geschenk-Bücher und Vertiefendes zu gewissen Spielarten gibt es durchaus, aber kein trockenes, umfassendes Standardwerk.
Seltsam. Sollte man ändern.
■ Mail von L.
Wie im Tagebuch bereits berichtet, ist Kollege L. gerade dabei, mit dem Fahrrad von Salzburg nach Salzburg zu fahren. Allerdings nicht auf dem direkten Weg, sondern über Wien, Wroclaw, Kiew, Moskau, St. Petersburg, Helsinki, Stockholm, Kopenhagen und Hamburg. Alleine, nur mit Rad und Anhänger.
Der bewunderte Teilzeit-Extremsportler schrieb letzte Woche eigentlich einen letzen Zwischenbericht aus Deutschland. Das nächste Mal wollte er sich bereits aus der Heimat melden. Doch nach tausenden Kilometern muss L. aufgeben. Sein Knie macht nicht mehr mit.
"Nun gibt es kein Halten mehr. Ich habe sicher seit 10, 15 Jahren nicht mehr so geheult. Viele teilweise zermürbende Situationen habe ich durchgestanden mit Hilfe des Gedankens, mit dem Rad zu Hause anzukommen und diese Rettungsboje, die mir so oft geholfen hat, sinkt nun, unaufhaltsam. Zum ersten Mal auf meiner Reise sehe ich mich einem Problem gegenüber, das ich auch mit größter Anstrengung und Willenskraft nicht lösen kann.
Lukas Pichelstorfer
Mittlerweile bin ich seit drei Tagen in Chimay und warte auf meine Genesung. Auch das lokale Krankenhaus habe ich besucht. Nette Leute, die sich viel Zeit für mich nehmen, mir Mut machen, aber wirklich helfen können sie auch nicht.
Ich werde nun noch ein, zwei Tage pausieren und dann versuchen, mit dem Zug nach Basel zu fahren. Ich hoffe, dass es meinem Knie dann wieder besser geht, bin jedoch nicht sehr optimistisch, weil in den letzten drei Tagen nicht viel passiert ist. Seit heute Morgen glaube ich auch, einen leichten lila Schimmer um meine Kniescheibe zu erkennen.
Rein logistisch gesehen wird es kein großes Problem werden, mit dem Zug nach Hause zu fahren, es ist mehr ein mentales. Es fällt wahrscheinlich nicht schwer, sich vorzustellen, wie übel es ist, an dieser Stelle aufzugeben ..."
Freitag, 05. August
■ Amazon-Rezension zu Anne Franks Tagebuch:
also ich musste das buch von der schule lesen, und hab es abgebrochen, ich fnde anne hat zwar nen superguen schreibstil für so ein junges mädchen, aber trotzdem erzählt sie immer wieder von den gleichen themen, schliesslich sind die in ihrem hinterhaus eingesperrt und erleben da ja nicht besondeers viel, ich glaube wenn man sich nicht so riesig für solche themen interessiert, sollte man die finger von dem buch lassen.
■ Mit bereits vierhundert (in Worten: vierhundert) Folgen staubtrockenen Infotainments hat das Ron Tyler Archiv, die Wikipedia der Internet-Generation, die Videoplattform youtube schleichend unterwandert. Die jüngsten fünfzig kann der geneigte Fan nun wie gewohnt als Playlist genießen:
Samstag, 06. August
■ Rund eine Minute nach kaltem Duschen wird der Körper von einer tiefen, majestätischen Wärme übermannt.
■ Eier, Butter, Bier – Texte zu Einkaufslisten unbekannter Provenienz (1)
DIE VORTEILE DER GLEITZEIT
marc carnal
Wer bis drei im unbarmherzigen Takte der Stechuhr sein Tagwerk vollbringt, dann eine halbe Stunde würdelos zusammengepfercht die Entbehrungen des öffentlichen Nahverkehrs zu bewältigen hat, nach nur dreißig Minuten Geruhsamkeit in der behaglichen Garçonnière weiter zum legitimerweise gerühmten Vollwert-Bäcker Gradwohl eilen muss, um einen ausgesuchten Laib zu erstehen und sich dann obendrein noch über zeitnahe Highlights in der üppigen Welt der Jugendkultur informieren will, hat es sich durchaus verdient, den Abend mit dem einen oder anderen Fläschchen Wein oder auch Co ausklingen zu lassen, und natürlich: Manchmal muss „ausklingen“ auch als Euphemismus herhalten, man säuft sich schon gerne mal die Hucke voll und zecht, bis der Arzt kommt, kippt und gießt und schluckt, als gäbe es kein Morgen, zwitschert sich ordentlich einen hinter die Birne, eimert, bechert, pichelt und tankt wie ihm Wahn, bis man schließlich gegen Mittag im eigenen Erbrochenen aufwacht, mit pelziger Zunge „Merde…“ murmelt, den pochenden Kopf schüttelt und im Bewusstsein, viel zu spät und mit eindeutigen Ausdünstungen ins Büro zu kommen, einen rosa Zettel zur Hand nimmt und, den Tatsachen resignierend ins Auge blickend, darauf notiert: „Arbeiten - 7“