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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

3. 8. 2011 - 17:27

Skizzen von Beziehungen

In ihrem Erzählband "Immer ich" beschreibt Alissa Walser Verhältnisse zwischen Frauen und Männern.

Auf Alissa Walsers Buch unter dem Titel "Immer ich" steht "Erzählung". Eine Einordnung, die in die Irre führt, denn eine einzelne Erzählung ist es nicht. Vielmehr versammelt es neun eigenständige Geschichten, die eng miteinander verwoben sind. Die Autorin beschreibt Alltag, Sehnsüchte und Begegnungen aus dem Leben zweier Frauen, die einander kaum kennen, aber viel miteinander teilen: Männer, eine Leidenschaft für graphische Kunst und ein Weihnachtsfest in Brooklyn Anfang der Neunziger Jahre.

Frauen mit Männergeschichten

Da ist zum einen Mona, die nach New York gekommen ist, um einen Computerkurs zu machen, und Nina, die Kunst studiert. Beide richten sich im Big Apple einen aufregenden Alltag ein, lassen sich intuitiv von den Verheißungen der Stadt leiten und erleben Affären voller Leidenschaft. Deren Ablaufdatum bestimmen sie jedes Mal selbst. Nur niemandem verfallen, immer schön unverbindlich bleiben.

Jahre später wird Mona alleinerziehende Mutter sein, die von einem kleinen Fotostudio in Frankfurt lebt, und Nina Immobilienmaklerin, die Kontaktanzeigen in Zeitungen aufgibt. Dazwischen liegen mehrere Männer.

Liebe aus der Vergangenheit

Walsers Geschichten erzählen wie die beiden, ohne es voneinander zu wissen, Fred und Victor treffen, die Ex-Freunde der jeweils anderen. Durch gescheiterte Beziehungen, Leistungsdruck in der Arbeit und zunehmende Selbstreflexion ist den Frauen mit den Jahren ihre ursprüngliche Leichtigkeit in Liebesdingen verloren gegangen. Ihre Vergangenheiten beeinflussen die Verhältnisse der Gegenwart mehr als ihnen lieb ist.

Schon im ersten Rendevous von Mona und Victor etabliert sich Fred, der Verflossene, als konstante Größe zwischen den beiden:

"Wir kamen ins Reden. Und hätten uns einfach küssen sollen. Wäre besser gewesen. Küssen hätte uns die Mäuler gestopft. Aber das Küssen blieb uns im Hals stecken, bis es nur noch ein In-Gedanken-Küssen war. (...) Victor wollte vor allem eins wissen: Wer sich von wem und wann getrennt habe."

In solchen alltäglichen Situationen macht Alissa Walser die Spannungen zwischen den Geschlechtern, ihre Eifersucht und kommunikativen Missverständnisse regelrecht fühlbar.

Portrait Alissa Walser

A. Buxhoeveden

Alissa Walser, geboren 1961, lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

Malen und Schreiben

Dabei wollte Alissa Walser nie Autorin werden. Als Tochter des Schriftstellers Martin Walser hat sie es stets vermieden, in die väterlichen Fußstapfen zu treten. Stattdessen hat sie in Wien und New York Malerei studiert, und ihre Bilder jahrelang erfolgreich in Galerien ausgestellt. 1992 hat sie Leinwand und Pinsel aber doch gegen eine Schreibmaschine eingetauscht, und gleich mit ihrer ersten Erzählung "Geschenkt" den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen.

Seither sind von ihr mehrere Erzählbände und der historische Roman "Am Anfang war die Nacht Musik" (2010) erschienen. Ganz hat Walser ihre künstlerische Heimat aber nie aufgegeben. In ihrem schriftstellerischem Werk spielt neben den Beziehungen zwischen Frauen und Männern die Malerei noch immer eine große Rolle.

Mit den Augen denken

Buchcover "Immer ich" von Alissa Walser

Piper Verlag

"Immer ich" ist 2011 beim Piper Verlag erschienen. Das Buchcover hat Alissa Walser selbst gestaltet. Es zeigt einen vergrößerten stilisierten Fingerabdruck.

In "Immer ich" ist es vor allem die Beschreibung von Farben, die auffällt.

Nina kann die mit "weißen Mayonnaise-Herzen" gefüllten Fleischtomaten und die "grasgrünen Basilikumblätter" auf dem Buffett einer Vernissage nicht als "Verkörperung des Schlaraffenlandes" ernstnehmen. Für Mona wird eine Schüssel von Cornflakes gelblich verfärbter Milch, die ihr Sohn nach einem Streit am Frühstückstisch zurücklässt, zum "Denkmal des gekränkten Kindes".

Walser gehen derartige Bilder ganz selbstverständlich von der Hand. "Wenn Mona mit den Augen denkt, denkt sie.", schreibt sie, und überträgt auf diese Weise die eigene visuelle Wahrnehmung auf ihre Protagonistinnen.

Von der Skizze zum Gesamtbild

So ergiebig diese Nähe zu ihren Figuren auch ist, macht sie es mitunter schwer festzustellen, aus welcher Perspektive die Geschichten im Buch erzählt werden. Vor allem die ersten Zeilen jedes neuen Kapitels stiften Verwirrung. Zeitsprünge, neue Figuren und Orte geben den Sinnzusammenhang zum vorher Gelesenen erst allmählich preis. Einmal schummelt Walser sogar eine Anekdote aus dem Leben Berthe Morisots, der ersten Frau unter den französischen Impressionisten, ins Buch. Eine andere Erzählung endet mit einem Bilderrätsel.

Als LeserIn muss man sich auf diese Experimente einlassen. Denn Alissa Walser schreibt wie sie ihre Bilder und Zeichnungen gestaltet. Die einzelnen Striche zu Beginn lassen noch nichts erkennen, aber mit ein paar Akzenten hier, ein paar Schraffierungen dort, ergibt sich ein Gesamtbild, das man gern näher betrachtet.