Erstellt am: 1. 8. 2011 - 18:09 Uhr
Vierzig Nächte ohne Schlaf
August Kreutzer kann nicht mehr einschlafen. Mehrere Stunden pro Nacht starrt er auf die Zimmerdecke, schlurft durch die Wohnung, sieht sich Talk-Shows im Fernsehen an, liest alle Bücher, die er besitzt.
Schlafmittel sind wirklungslos, warme Milch und Schäfchen zählen hat er längst abgehakt. August Kreutzer ist nicht nur übermüdet, ihm ist langweilig.
Anstatt gezielt gegen die Schlaflosigkeit, die Ursache allen Übels, vorzugehen, beschließt er etwas gegen die Langeweile zu tun: Er geht. Er lebt in Berlin, einer Stadt, in der es sich wunderbar herumirren lässt. Immerzu wach wandert August Kreutzer in seinen schlaflosen Nächten durch die Großstadt. Er schleicht durch Treppenhäuser, streunt über Friedhöfe und Spielplätze, schaut in Briefkastenschlitze und untersucht Klingelschilder. August Kreutzer wird zum schlaflosen Geist im Moloch Berlin.
flickr.com/photos/sadiediane
Mit den Augen eines Irrläufers
Rowohlt Verlag
Seine Tage verbringt der 36-jährige als Junior Manager in der grellen Konsumwelt eines Einkaufszentrums. Zu seinen Aufgaben zählt das Schreiben der Werbebotschaften, die über die Lautsprecher verkündet werden. Der völlig übernächtige Kreutzer ist tagsüber in dieser Plastikwelt mit Sportstudio, Erlebnisbad, Multiplex und voller Touristen und Shoppingsüchtiger gefangen. Er ist gezwungen, sich trotz Müdigkeit Botschaften über Marzipan und Haarshampoo auszudenken. Es ist eine irrsinige Situation, gerade an jenem Ort arbeiten zu müssen, an dem alle Sinne gereizt werden und niemand zur Ruhe kommt.
In seinen Nächten findet Kreutzer die Ruhe auch nicht. In denen wandert er durch Berlin. Die Stadt ist voller Geschichte, voller Geschichten. August Kreutzer interessiert sich für alles, für die man untertags wohl einige Grenzen überschreiten müsste. Denn bei Tageslicht geht man kaum grundlos in fremde Mietshäuser, um sich die Klingelschilder anzusehen, die Treppenhäuser zu erkunden und die am Boden liegende Post zu überblicken. Bei Tageslicht ist ein erwachsener Mann (ohne Kind) auf einem Spielplatz immer etwas ungewöhnlich, in der Nacht interessiert das niemanden. Außer die russische Crepes-Verkäuferin Manja, die nachts arbeiten muss und daher für Kreutzer zur gelegentlichen Gesellschaft wird.
Inzwischen sind fast vierzig Nächte ohne Schlaf vergangen. Reaktionssinn und Gedächtnisleistung lassen nach, der Alltag wird ohne Ruhephasen zum Trip wie auf Droge. Kein Wunder, dass Kreutzer paranoid wird. Im Internet entdeckt er Seiten, auf denen ein gewisser "augustkreutzer" gepostet hat - es handelt sich ausschließlich um rassistische und Porno-Seiten. Ein Doppelgänger oder wieder ein Blackout?
Die Vorteile des Verirrens
Dazu ein weiterer Buchtipp:
Kathrin Passig und Alexs Scholz: "Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene", ebenfalls Rowohlt 2010
Der deutsche Jungautor Albrecht Selge legt mit "Wach" eine Hommage an die Langsamkeit vor. In diesem Roman passiert wenig bis nichts, einzig am Ende wird der Text spannend. Aber diese Haltung ist Programm und auch verständlich, wenn man sich in die Figur hineinversetzt. Schlaflosigkeit bedeutet in erster Linie Einsamkeit, da alle anderen schlafen. Die Stunden vergehen wie in Zeitlupe, die Umgebung erscheint wie ein Gemälde im Museum, vor dem man stundenlang verweilen kann bzw. hier sogar verweilen muss.
Reza Jan Mansouri
Weitere Leseempfehlungen:
Dass seine Figur sich zum Herumwandern entschließt, geht auf Albrecht Selges eigene Erfahrungen zurück. Selge arbeitet hauptberuflich an akustischen Audioführern für Touristen, also jenen Geräten, mit denen man ohne Gruppenzwang oder Plan bei Sehenswürdigkeiten mit Infos versorgt wird. In dieser Idee stecken bereits die Vorteile des beabsichtigten Verirrens, durch die man rein zufällig an all jene Orte kommt, die man entweder bisher nicht kannte oder nie mit Absicht besucht hätte.
Und das ist auch die Essenz von "Wach": Die Hauptfigur entdeckt all jene Dinge, die man vor allem in der Großstadt allzu leicht übersieht. Dass diese Erkenntnis ausgerechnet von jemandem kommt, der nach vierzig Nächten ohne Schlaf wie auf einem Trip dahinlebt, macht Lust, selbst wieder einmal die eine oder andere Nacht durchzumachen.