Erstellt am: 12. 8. 2011 - 16:23 Uhr
FM4 Jugendzimmer spezial - Fünf RadioReisen
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Mit dem Radio reisen
Ein geheimer Ort in den Hügeln von Sarajevo, die Metro im Herzen von Moskau, die Band Laibach nach einem Konzert in Zagreb, mit dem Fahrrad durch die Straßen von Tokio.
An fünf Freitagen von 22. Juli bis 26. August reisen Elisabeth Scharang und Claus Pirschner in Eigenregie oder als Beifahrerin durch die Welt. Sie fragen nach. Sie hören zu. Sie entdecken Neues und sind verwundert über Altes. Und manchmal verlassen sie dafür nicht einmal das Studio.
Etwas über ein Jahrzehnt nach dem Ende der Jugoslawienkriege habe ich mich auf eine Reise auf den Westbalkan begeben. Durch den Krieg wurden ökonomische, politische, kulturelle und soziale Verbindungen zwischen den einstigen Teilrepubliken weitgehend gekappt. Gibt es nun eine neue „Jugosphäre“, also eine neue Zusammenarbeit am Westbalkan? Wie sehr stehen dieser Entwicklung Nationalismen entgegen? Wie weit ist es mit der Europaorientierung gediehen? Wie groß ist der Einfluss der Jugoslawienkriege auf den Alltag der Menschen heute? An den letzten zwei Freitagen habe ich Stimmen und Stimmungen aus Kroatien, Serbien und dem Kosovo eingefangen. Nun geht die Reise nach Bosnien Herzegowina. Zuerst in die Hauptstadt Sarajevo, die vier Jahre lang belagert war. Und dann geht es weiter nach Mostar.
Auf den ersten und auf den zweiten Blick
Im Zentrum von Sarajevo tummeln sich Menschen verschiedener Volksgruppen und viele Touristen. Es gibt kleine gemütliche Restaurants in den engen Gassen. Abends sehe ich immer wieder Menschen, die in oder vor den Bars singen und tanzen. Auf den ersten Blick wirkt Sarajevo - zumindest im Zentrum - versöhnlich und gut gelaunt. Aber von 1992 bis 1995 herrschte hier Krieg.
Claus Pirschner
Nachdem sich Bosnien Herzegovina für unabhängig erklärt hatte, setzten die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen bosnischen Muslimen, Serben und Kroaten ein. Sarajevo war vier Jahre lang eine belagerte Stadt. Man konnte nur durch einen Tunnel hinaus und hinein. Auf den zweiten Blick sind zahlreiche Häuser in der Stadt noch von Einschusslöchern übersät.
Ich treffe Hana, Dina und Ana. Drei junge Frauen aus Sarajevo, die ihre Stadt sehr unterschiedlich erleben. Für Hana Stojic ist Sarajevo eine Stadt, in der man nie allein ist: „Auch wenn man der einsamste Mensch der Welt ist, wenn man durch die Stadt spaziert, dann trifft man jemand, mit dem man zur Schule gegangen ist, oder sie, die man aus einem weiteren Freundeskreis kennt. Hier bin und hier war ich nie einsam.“ Hana ist während des Krieges mit ihrer Familie nach Wien geflüchtet und später wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt.
Neben ihr steht die Studentin Dina Vilic. Für sie ist Sarajevo einfach eine Provinz in Europa, nichts besonderes. Und sie meint, die Menschen hier hätten nichts mehr zu geben, sie wären zu lethargisch. Aber ich schaue in ihre strahlenden Augen und sehe einen sehr aktiven, involvierten Menschen vor mir. Ich frage sie, wie das dann möglich sei? „Ja, es gibt Individuen wie mich, die Energie haben und sich engagieren, aber die meisten von uns sind anders.“ Dina spricht bestimmt von einem Teil der Menschen in Sarajevo, gezeichnet vom Krieg und nun enttäuscht von der schlechten wirtschaftlichen Lage mit über 40% Arbeitslosigkeit. Wie groß dieser Teil der Bevölkerung ist, vermag ich nicht einzuschätzen.
Erinnerungen und Ausblick in den Hügeln um Sarajevo
Neben der skeptischen Dina ist da noch Ana Raos. Sie hat den Krieg in Darmstadt in Deutschland überdauert und ist nach Kriegsende nach Sarajevo zurückgekehrt. Sie erzählt mir von ihrem Lieblingsplatz in den Hügeln um Sarajevo – eine verlassene Turmruine mit Blick auf die ganze Stadt. Sie fährt mit mir mitten in der Nacht dort hinauf, wir setzen uns auf einen Fenstervorsprung des Turmes, und sie reflektiert über ihre Stadt und ihr Leben hier. 1992 ist sie zu Beginn des Bosnienkrieges mit ihrer Familie nach Darmstadt geflüchtet. In den Hügeln sind damals die bosnisch serbischen Soldaten gewesen und haben die Stadt attackiert. 1997 ist Ana zurückgekehrt und sie erinnert sich, wie sie in Tränen ausgebrochen ist, als sie das zerstörte Gebäude der Tageszeitung Oslobodjene, das heißt übersetzt „Befreiung“, erblickt hat.
Heute wären viele im Land einer Art Gehirnwäsche von Nationalisten und religiösen Fundamentalisten unterzogen. Sie verbreiten Ideologien, aber um mehr Arbeitsplätze und ein normales geregeltes sicheres Leben für die breite Bevölkerung, dafür sorgten sie nicht, so der Eindruck von Ana. Sie hat ihren Blick auf die Gesellschaft in Bosnien in ihrem Artikel "Die unheilige Dreifaltigkeit" für FM4 verfasst.
Ana erzählt, dass die Menschen in Bosnien, müde vom Krieg, nicht den Mut hätten, gegen die dominierende nationalistische Politik auf die Straße zu gehen. In ihrem Job am Goethe Institut organisiert sie Projekte mit bosnischen SchülerInnen im Deutschunterricht - ein Versuch gegen den politischen Mainstream zu agieren. Insbesondere mag sie das Theaterprojekt mit den Jugendlichen, mit dem sie bereits in Bosnien, Zagreb, Belgrad und Berlin auf Tournee waren: “Da geht es um die Mauer und ihren Fall in Berlin. Die SchülerInnen ziehen Parallelen zu Mauern in den Köpfen in Bosnien und sie rufen auf, diese zu überwinden.“
„Der Friedensvertrag von Dayton verkennt die Wirklichkeit“
Am nächsten Tag eilt der Journalist Dzenat Drekovic mit mir durch Sarajevos Innenstadt. Am Weg erledigt er dringende Telefonate. Er hat viele Deadlines. Sein Geld verdient er als Fotograf beim bosnischen Wochenmagazin Dani – vergleichbar mit dem österreichischen Profil. Da war gerade Redaktionsschluss. Er macht als Freelancer bei zahlreichen anderen Projekten mit, etwa bei einem gratis aufliegenden Kulturguide für die Stadt. Am Cover des aktuellen Dani ist Emir Suljagic, der bosnische Bildungsminister. Dzenat erklärt warum: „Wer auf die Uni will, braucht einen guten Notendurchschnitt. Wer im Religionsunterricht war, hat einen besseren Durchschnitt, als jene, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben. Das diskriminiert die Nichtreligiösen. Der Minister will das mit Umrechnungen ausgleichen lassen. Alle drei Religionsgemeinschaften sind aber strikt dagegen.“ Das aktuelle Beispiel zeigt: die Katholiken, die Serbisch-Orthodoxen, und die Muslimische Glaubensgemeinschaft haben noch immer einen starken Einfluss auf die Politik in Bosnien – auch wenn dieser Einfluss abnimmt, wie Dzenat einschätzt.
Claus Pirschner
Die Politik ist wie die Religion proporzmäßig von den drei Ethnien des Landes besetzt: So gibt es in Bosnien drei Präsidenten – einen Bosniaken (bosnisch-muslimisch), einen Kroaten und einen Serben. Selbst die Wirtschaft ist weitgehend dreigeteilt. Jede Volksgruppe hat eigene Stromversorger. Die Dreiteilung des Landes wurde im Friedensvertrag von Dayton im Jahr 1995 festgeschrieben. Diese Dreiteilung hat wohl einst den Frieden ermöglicht, sie stärkt aber auch die jeweiligen Nationalisten und hat zum politischen Stillstand im Land geführt. Es sind viele, sogenannte normale Menschen, wie sie sich selber nennen, die ich in Sarajevo, in Bosnien, überhaupt am Westbalkan kennenlerne, die mit dem Nationalismus nichts am Hut haben und sich für eine offenere, liberale Gesellschaft einsetzen.
Dzenat Drekovic ist einer von ihnen: „Meine Mutter lebt in Mazedonien, mein Vater stammt aus Serbien und ich lebe in Sarajevo, in Bosnien. Ich bin in einem ethnisch sehr gemischten Umfeld aufgewachsen. Da konnte ich gar nicht nationalistisch werden. So geht es vielen anderen auch. Bosnien Herzegowina ist einfach ethnisch durchmischt und der Vertrag von Dayton verkennt diese Realität.“ Regierende Politiker hätten kein Interesse daran, diese Dreiteilung aufzugeben, und sich der bosnischen Wirklichkeit anzupassen – sagt Dzenat Drekovic. Der Status Quo diene ihrem eigenen Machterhalt. Als parteiloser Individualist ist es schwer, ökonomisch durchzukommen. Dzenat fotografiert übrigens am liebsten Menschen, die sich von der Politik nicht gegeneinander aufhetzen lassen.
Weiter nach Mostar...
Die letzte Station meiner Reise über den Westbalkan liegt Im Süden Bosnien Herzegovinas: Die Stadt Mostar, bekannt geworden durch die Brücke, die im Bosnienkrieg (1992-1995) von den kroatischen Einheiten zerstört worden ist. Der westliche Stadtteil ist hauptsächlich von bosnischen Kroaten bewohnt, der östliche von den Bosniaken, den bosnischen Muslimen. Der Fluss Neretva fließt dazwischen. Mittlerweile ist die Brücke mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut worden. Aber gilt das auch für die Beziehung zwischen den zwei Volksgruppen?
Claus Pirschner
Ich habe mich mit dem 25-jährigen Fotographen Enes Zuljevic auf der Brücke verabredet. Er erklärt bei einem Rundgang in seiner Geburtsstadt, inwieweit Mostar nach wie vor eine geteilte bzw. wieder eine zusammengewachsene Stadt ist. Er erzählt von BewohnerInnen, die den jeweils anderen Stadtteil noch nie betreten haben. Für ihn und die meisten ist es aber wieder normal geworden, auf die jeweils andere Seite zu gehen. Aber ihn überkommt immer ein eigenartiges Gefühl dabei, die Erinnerung an den Krieg.
Claus Pirschner
Enes verweist auf ein frisch gestrichenes oranges Gebäude, das Gymnasium. Seit kurzem werden bosniakische und kroatische SchülerInnen wieder in derselben Schule unterrichtet, allerdings in unterschiedlichen Klassen mit unterschiedlichen Lehrplänen. Beim Eingang eines verlassenen Hauses liegen noch immer die aufgestapelten Sandsäcke als Schutzwall davor – als Schutz vor den Kroaten, die von der anderen Seite der Straße herübergeschossen haben. Und dann bleibt Enes beim nächsten Haus stehen. Hier hat eine Kugel eines kroatischen Snipers seinen Vater getötet.
Freitag, 12.8., 19.00-20.15 auf Radio FM4
FM4 Jugendzimmer Spezial - RadioReise vier: 20 Jahre nach dem Beginn der Jugoslawienkriege – ein Lokalaugenschein in Sarajevo und Mostar
Enes findet trotz der schweren Vergangenheit seinen Weg. Er war in Graz ein Monat Artist in Residence und er hat die Aufnahmeprüfung auf einer Kunstakademie in Norwegen geschafft. Er hat seinen Vater im Krieg verloren, und er ist trotzdem offen geblieben für Freundschaften egal aus welcher Volksgruppe. Der junge Künstler ist Teil einer Generation, auf die Bosnien setzen sollte. Enes schwärmt von Mostar: „Hier zu leben, geographisch gesehen, ist eigentlich das Beste, was einem passieren kann. Wenn die Dinge stimmen würden, wäre das fantastisch, weil 45 Minuten südlich von hier liegt das Meer, eine halbe Stunde entfernt sind die Berge zum Schilaufen. Es ist ein sehr kleines Land, aber ein toller Ort zum Leben. Mostar vor allem.“