Erstellt am: 26. 7. 2011 - 16:43 Uhr
True Romance
Ja, ich weiß, dass sogar Freud über eine Latenzphase spricht, aber ich wollte schon immer die Mädchen umarmen. Schon seit dem Kindergarten versuche ich, die Vertreterinnen des anderen Geschlechts zu beeindrucken. Dass Frauen auf Materielles stehen, wusste ich schon früh. Meine erste Kindergartenliebe Sylvia sagte mir, dass sie mich erst lieben würde, wenn ich ihr ein Armband von meiner Mutter schenke. Ich war bereit alles für sie zu tun, deshalb fand ich schnell heraus, wo meine Mutter ihren Schmuck aufbewahrte und stahl das Armband. Sylvia trug es ständig, sie wurde offiziell meine Freundin und ich durfte mit ihr Mama und Papa spielen. Unsere Liebe endete aber tragisch. Als mich meine Mutter vom Kindergarten abholte, bemerkte sie ihr Armband an Sylvias Hand. Sie nahm es ihr wieder weg, ohne Rücksicht auf meine Gefühle und verpasste mir eine ordentliche Tracht Prügel. Damals lernte ich, dass Liebe auch weh tun kann.
flickr.com / User premus
Meine erste große Liebe war aber Radostina. Sie war neun und ich war sieben. Ich stand schon immer auf reifere Frauen. Mich und Radostina verband das Showbusiness. Ich war gerade einer der Stars in einem Remake eines klassischen bulgarischen Dramas über den ersten Balkankrieg 1912. Ein Mann zieht in den Krieg an die Front und stirbt wenig später. Seine Frau heiratet seinen besten Freund, wenige Tage nach der Hochzeit taucht der vermeintlich Tote plötzlich wieder auf - das Drama ist perfekt. Ich spielte das Kind des ersten Mannes. Ich durfte mit einem Holzgewehr durch die Gegend laufen und nach dem Dreh bekam ich Lego. Das war mein erster Job. Radostina hingegen war die Tochter der Sängerin im Restaurant in der kleinen bulgarischen Stadt Teteven, wo die Filmcrew immer zu Abend gegessen hat.
Wenn ich gerade frei hatte, gingen Radostina und ich im Wald spazieren. Wir rollten uns auf den Wiesen, versteckten uns in den Grotten und kletterten auf die Bäume des geheimnisvollen Balkanwaldes. Auf so einem Baum fanden wir einmal ein Vogelnest. Ich betrachtete es skeptisch. "Das ist eindeutig ein Amselnest", sagte ich mit sicherer Stimme. Radostina schaute mich beeindruckt an. Wie konnte ich sofort erkennen, dass wir gerade ein Amselnest gefunden hatten? Und das obwohl ich damals, wie auch heute, eine Amsel von einem Storch nicht wirklich unterscheiden kann. Jedenfalls war Radostina von meinem Intellekt überwältigt. Am Abend danach zerrte mich meine erste große Liebe unter den Tisch, wo die Filmcrew saß und ihre Mutter laut "Nur du, Herz, bist mir ein Freund im Leben" trällerte. Ich bekam meinen ersten Kuss.
flickr.com / User michfiel
Am nächsten Tag musste ich nach Sofia zurück. Die Dreharbeiten waren beendet und mein neues Lego half mir, die weichen Lippen von Radostina zu vergessen. Manchmal denke ich an sie. Ich frage mich, ob sie auch, wie ihre Mutter, Sängerin in einem dreckigen Restaurant in einer kleinen bulgarischen Stadt geworden ist. Ich stelle sie mir vor, wie sie den traurigen Schlager "Nur du, Herz, bist mir ein Freund im Leben" singt und ich denke an ihre wundervollen Lippen und an den Geruch des Tetevener Balkans.
Und ich? Ich versuche es mit meiner Amselnestnummer weiter. Manchmal habe ich sogar Erfolg.