Erstellt am: 5. 8. 2011 - 17:19 Uhr
"Jung, schnell und dreckig"
Überall junge Menschen auf der Straße. An fast jeder Ecke spielen Kinder. StudentInnen, die da und dort den chaotischen aber rücksichtsvollen Autoverkehr queren. Ein paar alte kommunistische Bauten, hohe Kräne, die neue Gebäude aufziehen. Breite Straßen, dahinter Gassen mit baufälligen Häuserzeilen. Und Strommasten mit einem Spinnennetz aus Leitungen an denen sich viele Haushalte illegal anzapfen…
radio fm4 claus pirschner
Mit dem Radio reisen
Ein geheimer Ort in den Hügeln von Sarajevo, die Metro im Herzen von Moskau, die Band Laibach nach einem Konzert in Zagreb, mit dem Fahrrad durch die Straßen von Tokio.
An fünf Freitagen von 22. Juli bis 26. August reisen Elisabeth Scharang und Claus Pirschner in Eigenregie oder als Beifahrerin durch die Welt. Sie fragen nach. Sie hören zu. Sie entdecken Neues und sind verwundert über Altes. Und manchmal verlassen sie dafür nicht einmal das Studio.
- Freitags, 19.00 bis 20.15 Uhr
Das ist Pristina auf den ersten Blick. Die Hauptstadt des Kosovo, dem jüngsten Staat Europas in zweierlei Hinsicht: die international nur teilweise anerkannte Republik wurde 2008 ausgerufen und jede/r zweite im Kosovo ist unter 25. Die Jugend hat die Mehrheit hier. Das ist faszinierend für jemanden, der aus Österreich kommt, ein Land in dem die Alten regieren.
"Jung, schnell und dreckig"
Ich mache mich gleich nach dem Einchecken im Hotel auf den Weg in die Bar Tingle Tangle. Eine Insiderin hat mir erzählt, dass man dort die interessantesten Menschen der Stadt trifft. Das Tingle Tangle liegt im Zentrum Pristinas irgendwo hinter dem Grand Hotel, in einem Wohnviertel. Da sitzen dann zum Beispiel Zgijm, der Bassist und Asdren, der Gitarrist, von der Indie Band The Glasses: "Mein Pristina ist jung, schnell und ziemlich dreckig. Man kann hier gut leben, wenn man weiß, wo man hingehen soll. Die Mehrheit der Kultur stckt aber noch immer in den 80-ern fest. Bei der Musik haben wir große Probleme. Du kannst einfach nicht genug Publikum finden, für Indie Musik ganz besonders" erzählt Zgijm, aufgewachsen als Diasporakind. Seine Eltern sind wegen der Repression durch die Serben aus dem Kosovo geflüchtet. Zgijm hat mit ihnen in der Schweiz gelebt. Nach dem Kosovokrieg ist er wieder in den Kosovo zuurückgekehrt, weil seine Vater ein großer Patriot ist und auch in der der Armee war, wie mir Zgijm erklärt. Plötzlich wird unser Gespräch unterbrochen, ein Polizist läuft an uns vorbei. Jemand hat eine Ausfahrt mit dem Auto blockiert. Aber er entkommt. Die Polizei sei eher faul in Pristina, kommentiert ein Gast im Cafe Tingle Tangle die Szene.
fm4 claus pirschner
"Kommt und besucht uns!"
RadioReise eins
Mit dem Künstler und Filmemacher Edgar Honetschläger durch Tokio.
RadioReise zwei
Zwanzig Jahre nach Kriegsbeginn. Eine Reise nach Zagreb, Beograd und Zrenjanin.
RadioReise drei
Ein Besuch in Pristina - der Hauptstadt des jüngsten Staates Europas, des Kosovo.
Neben den Glasses trinkt Besa Luci, die Chefredakteurin des albanisch-englisch-serbischen Online Magazins Kosovo 2.0, ihren Cafe. Besa liebt ihre Stadt. Es sind nicht die grauen Blöcke oder der chaotische Verkehr, sondern die Vielfalt der Menschen, warum sie sich hier zuhause fühlt: "Viele aus Europa zögern hierherzukommen, wegen der Art wie über das Kosovo insbesondere in den westlichen Medien berichtet wird. Viele glauben, es sei sehr gefährlich. Aber kommt und besucht uns! Leute, die hier das erste Mal herkommen, überrascht die Offenheit und die tollen Gespräche mit den Menschen in den Cafes."
Die junge Mehrheit hier hat zwei Probleme, sagt Besa: das erste ist die Visumpflicht nach Europa: "Wie soll man sich als EuropäerIn fühlen, wenn man gar nicht durch Europa reisen darf?" bringt sie die Sache auf den Punkt. Auch nach Bosnien und nach Serbien durften KosovarInnen bislang nicht einreisen, weil man dort den Staat Kosovo nicht anerkennt. Erst Anfang Juli hat Serbien angekündigt, endlich die Personalausweise des Kosovo zu akzeptieren. Das zweite Problem, sagt Besa, ist die schlecht bezahlte Arbeit, 250 Euro im Monat verdient eine Familie nur bzw. die Arbeitslosigkeit: jede/r zweite hat überhaupt keinen Job. Besa kritisiert, dass die Regierung und die internationale Gemeinschaft im Kosovo primär in Infrastruktur wie Häuser oder Autobahnen investierten. Eine offensive Politik gegen die Arbeitslosigkeit gäbe es nicht.
Korruptionsbekämpfung
Ich lerne im Cafe Tingle Tangle noch einige junge Menschen kennen, die viel über ihre Heimat zu sagen haben und sich an ihrem Aufbau aktiv beteiligen. Da ist noch der 27-jährige Dani Ilosi, der mit anderen seiner Generation die NGO "Speak Up" gegründet hat, um gegen Korruption im Kosovo vorzugehen. Dani bezeichnet Korruption als einen Nachkriegskrebs, den er los werden will. Wenn Speak Up von einem Bestechungsfall Wind bekommt, wird dieser öffentlich gemacht. Damit hat die Gruppe schon einige Erfolge verzeichnet.Sie haben überteuerte Dienstautos der Regierung verhindert, eine Strompreiserhöhung abwehren können und weitere öffentliche, korrupt vergebene Aufträge platzen lassen. Sie haben Millionen Euro der SteuerzahlerInnen gerettet.
Die Motivation von Dani ist klar: "Unsere Eltern und Großelten haben für dieses Land gekämpft. Ich meine damit nicht den Krieg , aber intellektuell und durchaus auch physisch. Ich möchte mein Land als Good News und nicht mehr als Bad News in den Medien sehen. Ich möchte, dass Menschen, die uns bis hierher geholfen haben, nicht enttäuscht werden sondern dass sie stolz darauf sind, auch Österreich zum Beispiel. Überall soll man wissen, dass es im Kosovo Menschen gibt, die dafür kämpfen.Wir möchten im Kosovo leben und nirgendwo anders.Und wir möchten unseren Landsleuten einen Grund geben, hierher zurückzukehren und nicht von hier wegzugehen."
fm4 claus pirschner
Der jüngste Staat Europas
Im Cafe Tingle Tangle spreche ich weiters mit Eva Kitzler, einer Auslandsösterreicherin, die im Ministerium für Rückführung und Minderheiten arbeitet. Sie erzählt, wie sie hilft, Kriegsflüchtlinge oder Vertriebene wieder heimzuholen. Nita Luci, eine Anthropologin, schildert, wie sie damals in den 90er Jahren beim zivilen Widerstand gegen die serbische Repression dabei war und wie die kosovarische Jugend heute tickt. Schließlich klärt sie mich darüber auf, dass das Kosovo hervorragende Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetze hat. Das Problem ist die Umsetzung. Immerhin im Parlament funktioniert die Quotenregelung. Ein Drittel der Abgeordneten sind Frauen, ein deutlich höherer Frauenanteil als im österreichischen Nationalrat – also ein Beispiel für Good News aus dem Kosovo. Jedenfalls könnte man ja mal das Kosovo als Vorbild nennen, wenn es um Frauen im Parlament geht.
Das Kosovo – ein Rückblick
1989 hat Jugoslawien die Autonomie seiner Provinz Kosovo aufgehoben. Das Regime von Milosevic unterdrückt die Kosovo-Albaner. Milosevic lässt albanischsprachige Schulen schließen, KosovarInnen enteignen, verbietet regierungskritische Organisationen. Der anfangs gewaltfreie Widerstand der KosovarInnen mündet ab 1998 in Kämpfe mit der serbischen Armee. 1999 bombardiert die NATO strategische Ziele in Jugoslawien, um eine sogenannte "humanitäre Katastrophe" zu verhindern. Trotzdem sterben im Kosovokrieg an die 12.000 Menschen. Nach diesem Krieg, dem letzten der Jugoslawienkriege, besetzen internationale Truppen den Kosovo. Das Land wird unter UNO Verwaltung gestellt. Trotzdem kommt es 2004 zu blutigen Ausschreitungen gegen die Minderheiten der Serben und Roma.
2008 ruft das Kosovo seine Unabhängigkeit aus. 76 Staaten haben die Republik bisher anerkannt. Die serbische Minderheit im Norden erkennt die Regierung von Pristina nicht an. Dort herrscht ein weitgehend rechtsfreier Raum. Erst Ende Juli haben kosovarische Serben einen Grenzübergang zu Serbien in Brand gesetzt, als die kosovarische Exekutive dort versucht hat, die Kontrolle zu übernehmen. Die Probleme des jungen Staates sind neben dem Nordkosovo, Arbeitslosigkeit, organisierte Kriminalität, Menschenhandel, Drogenhandel und Korruption. Jeder zweite Geschäftsmann muss laut einer Umfrage der US-Handelskammer Schmiergeld zahlen, um öffentliche Aufträge zu bekommen.
Erst Ende Juni haben Tausende Menschen in den Straßen Pristinas gegen korrupte Politiker demonstriert.
RadioReisen drei
Ein Besuch in Pristina - der Hauptstadt des jüngsten Staates Europas.
Ein FM4 Jugendzimmer Spezial, zu hören am Freitag, 5. August, von 19.00 bis 20.15 Uhr
Und hier zum Nachhören:
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