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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

23. 7. 2011 - 13:55

EMA in NYC

Das Stirnfransenwunder mit dem großen kalifornischen Poem gastierte in NYC. Es war hot, terrifying & beautiful.

Hitzekathedralen

EMA

Christian Lehner

„Heat dome“ oder „tropical depression“ sind Hilfsbegriffe, mittels derer Meterologen die Hitzwelle zu beschreiben suchen, die vom Golf von Mexiko ausgehend derzeit über weite Teile der USA rollt. Temperaturen und Luftfeuchtigkeit sind eine Herausforderung für Mensch und Material. In der großen Stadt gerät der tägliche Gang zur U-Bahn zum Temperatursturz. Vom Ozon-Glutofen in den AC-Eisschrank und zurück. Die Kontradiktion ist ein Hund. Dazu das Surren tausender Klimaanlagen, die das Stromnetz mit jeder verbrauchten Kilowattstunde näher an den Kreislaufkollaps führen. Onehundretonepointfivefuckingdegreesfahrenheit. Die Wettersite grinst: „feels like 115“, das bedeutet gefühlte 46 Grad im Schatten. Es ist sechs Uhr abends. Do the right thing.

Aber, ich mag’s eigentlich heiß. Morgen schmeißt die Community von Clinton Hill eine Block Party auf der Grand Ave. Barhäuptig wie mich die Natur ausgestattet hat, überlege ich, eventuell als Spiegelei-Röster zur Verfügung zu stehen. Grantiert stromfrei.

„Tropical Depression“. Diese wunderbar manische Bezeichnung fasst auch ganz gut den Auftritt von Erika M. Anderson aka EMA vergangenen Mittwoch in der Mercury Lounge im East Village zusammen, geht es doch bei der hinter blondierten Stirnfransen hervorlugenden Singer- Songwriterin um extreme Stimmungsschwankungen und bipolare Geistes- und Herzenszustände. Wir erinnern uns: die bessere Hälfte des auf Minimalismus setzenden Noise-Duos Gown aus Kalifornien hat jüngst mit ihrem Solodebüt „Past Life Martyred Saints“ für Jubelstimmung unter den Freunden krachender Standorstbestimmungen gesorgt. Das Sangespoem „California“ ist nicht nur eine grimmige Abrechnung mit Personen und gesellschaftlichen Umständen, die zu persönlichen Tragödien von im Song direkt benannten Freunden geführt haben, es lässt sich darüber hinaus als die bessere Landeshymne auf die derzeitige Verfasstheit des Ex-Arnie-Bundesstaates lesen, obwohl kein einziges Wort über Staatsbankrott und verlotterte Politik zu hören ist.

EMA

Christian Lehner

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EMAs Musik ist, als würde die gedachte Schwester von Xiu Xiu ein Paar Grunge-Akkordfolgen borgen und daraus Torch-Songs, ach was, Musikgedichte, machen, die so brutal schön sind, dass man am Fleck für immer vergehen möchte, so zwingend sind diese Meditationen zwischen Anmaßung, Schuldzuweisung, Pathos, menschlicher Grausamkeit, Teenage-Befindlichkeiten und den größeren Zusammenhängen dieses Lebens. Auch live fährt dieser Noise-Folk gehörig ins Gebein. Mit einer E-Gitarre setzt Anderson Drones und Distortions ab und versinkt gekonnt in der Materie. Ein bisschen kaputt, ein bisschen off-key mutet das zunächst an. Doch das stört kein bisschen, wohl auch deshalb nicht, weil man sieht, wie souverän Anderson nach und nach in ihre Songs schlüpft.

EMA

Christian Lehner

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Stecknadelstille beim dritten Stück, dem wunderbaren Opener des Albums „The Grey Ship“, das von der verdrogt halluzinogenen Anmutung durchaus mit dem Morrisonschen Kristallschiff vertäut sein könnte. EMA, die man auf den ersten Blick mit einer nach Coolness strebenden Existentialismusdarstellerin verwechseln könnte, führt zwischen den Songs so unprätentiös durch ihr Programm, dass sich in der kleinen Mercury Lounge beinahe so etwas wie Behaglichkeit einstellt. Der Ausbruch folgt prompt. Die sechs Saiten der Gitarre beziehen Dresche. Die Band an den zwei Elektro-Violinen (!), den Keys, der zweiten Gitarre und die Schlagzeugschwester folgen diesem emotionalen Zickzack-Kurs mühelos und wirken dabei doch so abwesend. Am Ende dann die Hymne. Das byzantinische Jesushandzeichen wird bei EMA zur symbolischen Gun, wir kennen das aus dem Video. Die kleine Fanschar singt jedes Wort mit. Nach neun Stücken (aus dem Album blieb nur der Song „Coda“ zuhause in San Francisco) war Schluss.

Nach dem Kurzauftritt - EMA spielte später noch einen Gig im Glasslands in Williamsburg - tauche ich gereinigt aber ungewaschen erneut hinab in die stinkenden Eingeweide der Stadt, die mich wenig später wieder in Clinton Hill ausspucken. Die Hitzwelle würgt noch immer Straßen, Häuser und Menschen. Mittlerweile ist es dunkel. Keine Sterne.