Erstellt am: 29. 7. 2011 - 18:00 Uhr
Die Prostata-Jahre
Edition Tiamat
- Wie lange habe ich noch zu leben?
- Muss ich meinen Tumor angeben, wenn ich am 1. November meine Lebensversicherung verlängere?
- Bezahlt mir die staatliche Gesundheitsvorsorge eine Perücke, wenn ich durch die Chemotherapie meine Haare verliere?
- Wird meine sexuelle Leistung weiter abnehmen?
- Kann ich arbeiten, während ich mich der Behandlung unterziehe?
- Wenn nicht, kann ich dann Krankengeld beantragen?
- Falls der Schmerz gegen Ende zu schlimm wird, soll ich in die Schweiz fahren, um mein Leben in einer Klinik zu den Klängen von Mahler zu beenden?
Adrian Mole hat sich zur Sicherheit vor dem Besuch bei seinem Urologen einen Fragenkatalog zurecht gelegt. In den letzten Monaten musste er immer öfters in immer kürzeren Abständen das stille Örtchen aufsuchen. Seine Prostata nennt er schon neckisch den "eifersüchtigen Liebhaber", weil sie ihn ständig davon abhält, mit seiner Frau Daisy zu schlafen. Die Untersuchung war längst überfällig, die Diagnose auch: Prostatakrebs.
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Die schweren Jahre nach 39
Wir schreiben das Jahr 2007, Gordon Brown hat Tony Blair als britischen Premierminister abgelöst, und im kleinen Leicestershire munkelt man schon, dass Adrian Mole "da unten" einige Probleme zu haben scheint. Das ältere Ehepaar, das schon seit Jahrzehnten das Postamt betreut, versichert Adrian aber, dass es mindestens ein halbes Dutzend Leute kennen würde, die auch an Prostata-Krebs erkrankt sind. Und zwei davon seien sogar noch am Leben.
Adrian Mole, Alter 39, ist schon ein armer Tropf. Schon als neurotischer, Akne-gequälter Teenager im Jahre 1982 hat ihm sein Leben nie die besten Karten ausgespielt. Seine große Sandkastenliebe Pandora hat er nie bekommen, die Scheidung seiner Eltern wurde für ihn zum Trauma und aus seinem Wunsch, ein berühmter Schriftsteller zu werden, wurde auch nichts. Während um ihn herum, in bisher neun Bänden seines Tagebuchs, die Welt erschütternde Kriege führte, wird er nun mit ganz anderen Realitäten konfrontiert: Seine Kreditkarte ist hoffnungslos überzogen, er kann seine Rechnungen nicht begleichen und muss als Aushilfe in einem Buchantiquariat arbeiten. Die Buchhandlung droht aber pleite zu gehen. Weil er kein Geld hat, muss er mit seiner Frau Daisy in einem kleinen britischen Kaff in einem umgebauten Schweinestall in der Nachbarschaft seiner Eltern hausen. Daisy hasst das Landleben, ihre gemeinsame Tochter Gracie zeigt beunruhigende stalinistische Tendenzen. Und keiner will Adrians episches Theaterstück "Pest!" aufführen, in dem doch "nur" 60 Charaktere mitspielen. Und dann noch? Krebs.
Everything falls apart
Weil es auch ernst ist:
Prostata-Krebs ist die bei Männern am häufigsten auftretende Krebsform. Ab 45 sollten Männer auf jeden Fall jährlich zur Vorsorgeuntersuchung
Aber Adrian Mole ist nicht der Einzige, der in diesem Roman auseinanderfällt. Sein Vater, dessen einziger Sport über Jahre hinweg die Betätigung der Fernbedienung war, sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. Mr. Carlton-Hayes, der Besitzer des Buchgeschäftes, in dem Adrian arbeitet, wird langsam senil. Adrians Schwester Rosie und ihre Mutter bezweifeln, dass Adrians Vater auch Rosies leiblicher Vater ist und wollen einen Vaterschaftstest machen lassen: im Fernsehen. Adrians Bruder Brett verliert sein ganzes Geld bei der Finanzkrise. Und Adrians bester Freund Nigel verliert sein Augenlicht. All die Charaktere, die die Leser seit dem ersten Tagebuch von Adrian Mole liebgewonnen haben, stehen nun vor dem Abgrund.
"Die schweren Jahre nach 39" (The Prostrate Years) ist der neunte und vermutlich bitterste Band der "Adrian Mole"-Reihe. Die Geschichte über den pubertierenden Teenager ist so britisch wie Fish & Chips, trotzdem sind die Probleme seines Heranwachsens dermaßen universell, dass die Buchreihe zu einem Welterfolg wird. Adrian Mole-Erfinderin Sue Townsend hat selbst in ihrem langen Leben genug mitgemacht: Die Autorin ist schon seit Jahren an Diabetes erkrankt, 2001 erblindet sie. 2009 muss sie von ihrem Sohn eine Spenderniere empfangen.
BBC
Aber Sue Townsend ist wie ihr Protagonist oder besser: er ist wie sie, nämlich hart im Nehmen. Ihre Bücher waren immer ein Spiegel der Realität und kommentierten das politische Weltgeschehen (z.B.: "Adrian Mole and the Weapons of Mass Destruction") bzw. gesellschaftliche Umbrüche (z.B. die Scheidung von Adrians Eltern zu einer Zeit, als britische Ehen immer öfter in die Brüche gingen). Auch im neunten Band zügelt die Autorin ihre Zunge nicht, "bedankt" sich bei Tony Blair für den Tod vieler Freunde im Afghanistan-Krieg und bezeichnet Gordon Brown als "langweilig und irgendwie nahe dem Down-Syndrom".
Weitere Leseempfehlungen:
Dieser trockene, sarkastische Tonfall durchzieht den neuen "Adrian Mole"-Band, in dem der Held nun an Krebs erkrankt. Wenn die früheren Bände mit viel Humor die Schattenseiten des Heranwachsens geschildert haben, wird jetzt die Midlife-Crisis auf Korn genommen. Eine Zeit, in der man merkt, dass man Wünsche hatte, die sich nicht ausgegangen sind, und mit Sicherheit auch nicht mehr ausgehen werden.
Kritiker von "The Times" und "The Guardian" loben den neuen Band in höchsten Tönen. Die "Brigitte" nennt ihn gar "saukomisch". Ich schließe mich an und prognostiziere Adrian ein langes Leben.
HBO