Erstellt am: 18. 7. 2011 - 11:28 Uhr
Flugdaten: EU-Kommission rät zur Kapitulation
Die Innen- und Justizminister der EU-Mitgliedsstaaten trafen am Montag, den 18.07.2011, zu einer als "informell" geführten Sitzung im polnischen Sopot zusammen. Ganz oben auf der Tagesordnung stand das neue Abkommen mit den USA über die Weitergabe europäischer Flugpassagierdaten (Passenger Name Records, PNR) an die US-Geheimdienste.
Auch wenn in Agenturberichten stets von "Zoll" oder "Grenzschutz" die Rede ist: Die US-Flugsicherheits- und -Grenzkontrollbehörden unterstehen dem Ministerium für Heimatschutz, und das gehört nun einmal ganz offiziell zur "Intelligence Community" der 17 US-Geheimdienste.
In "kleinem Kreis" zu Brüssel
Wie einem internen Ratsprotokoll zu entnehmen ist, war am Donnerstag davor ein diesbezügliches Vorbereitungstreffen der ständigen Vertreter in Brüssel - also der EU-Botschafter aus den Mitgliedsstaaten - anberaumt. Die Aussprache fand in "kleinem Kreise" statt, was angesichts ihres brisanten Inhalts nicht ganz überraschend ist.
Die Kommissionsvertreter hatten den versammelten Diplomaten - und damit allen 27 europäischen Regierungen - dort vorgeschlagen, ihre zentralen Datenschutzforderungen bezüglich des geplanten PNR-Abkommens zurückzuziehen.
Das Prozedere ging folgendermaßen vor sich: Die Kommission verhandelt mit den USA im Auftrag des Ministerrats, erst dann ist das EU-Parlament an der Reihe mitzuentscheiden.
Angesagte Kapitulation
Das Protokoll selbst liest sich wie der Entwurf einer Kapitulationsurkunde gegenüber den USA. Die Kommissionsvertreter schlugen nämlich vor, die wichtigste europäische Forderung schlichtweg zu streichen, da es hier keinen Verhandlungsspielraum gebe. Es geht um die Ablösung des von den USA bevorzugten "Pull-Prinzips" durch ein "Push-Verfahren".
Bei zweiter Lösung übermitteln die Europäer in einem festgelegten Verfahren zu einem vereinbarten Zeitpunkt eine definierte Anzahl von Datenfeldern für jeden Reisenden.
Vor knapp zwei Wochen hatte die Kommission eingestehen müssen, dass sie auch bei der Weitergabe der Daten europäischer Bürger an Drittstaaten durch die USA nichts erreicht hatte. Die US-Seite wies jeden Versuch einer diesbezüglichen Einschränkung nicht nur ab. Man weigerte sich sogar, Garantien dafür abzugeben, dass Dritte die im Abkommensentwurf vorgesehenen - ohnehin nur marginalen - Datenschutzbestimmungen einhalten würden.
Seit Ende 2001 ziehen die US-Geheimdienste die Daten europäischer Flugpassagiere in großem Stil aus den weltweiten Buchungs- und Verrechnungssystemen der Airlines ab ("Pull"). Die vier größten Systeme sind entweder ohnehin US-Unternehmen oder unterhalten wie das europäische "Amadeus" Datencenter auf amerikanischem Boden.
Die "Pull"-Zugriffe
Von dort holen sich die USA seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sämtliche Datensätze ihrer Wahl. Die von europäischen Airlines sowie von den Passagieren selbst gelieferten Datensätze dienen nur zur Überprüfung, ob die betreffende Person nicht umgebucht wurde bzw. tatsächlich und in welcher Begleitung mitgeflogen ist.
Von diesen "Pull"-Zugriffen sind die USA nicht nur keinen Millimeter abgerückt, sie werden es auch in absehbarer Zukunft nicht tun. Das machten die Kommissionsvertreter den Mitgliedsstaaten deutlich.
USA brauchen Abkommen nicht
Die US-Seite habe kein wirkliches Interesse, überhaupt ein Abkommen mit der Europäischen Union zu beschließen, weshalb auch keinerlei Bereitschaft für weitere Verhandlungen gegeben sei, hieß es von den Kommissionsvertretern. Die Schlussfolgerung daraus steht hingegen nicht im Protokoll: Die USA verfügen ohnehin bereits über diese Datensätze, weil sie über die Buchungssysteme "Pull"-Zugriff haben.
Anders als die Europäer benötigen die USA dieses Abkommen auch aus rechtlichen Gründen nicht, zumal es in Einklang zu bestehenden amerikanischen Gesetzen steht. Datenschutz ist dort nicht nur kleingeschrieben, sondern auch ausschließlich für Bürger der Vereinigten Staaten vorgesehen.
Zweifel an Rechtskonformität
In Europa hingegen ist die massenhafte Weitergabe personenbezogener Daten europäischer Bürger - wer wann wohin in welcher Begleitung fliegt - praktisch unmöglich mit europäischem Datenschutzrecht in Einklang zu bringen. Das war auch der Kerninhalt eines Gutachtens der eigenen Rechtsabteilung der Kommission.
Sehr zum Ärger der Kommission hatte das Gutachten fundamentale Zweifel daran geäußert, ob das Abkommen überhaupt mit EU-Recht vereinbar sei. Die Kommission hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als das Gutachten nach Kräften bis heute zu ignorieren.
Von der europäischen Öffentlichkeit lange unbemerkt hat der EU-Ministerrat schon im April beschlossen, die Erhebung von Flugpassagierdaten auf innereuropäische Flüge auszuweiten. Gravierende Einwände der eigenen Rechtsabteilung des Rats wurden dabei ebenso ignoriert.
Neuer Verwendungszweck für Daten
Das Protokoll enthüllt außerdem, dass diese vorgeblich zur Bekämpfung terroristischer Angriffe und anderer Schwerverbrechen verabschiedete Serie von Abkommen längst für viel weitgehendere Zwecke benützt wird.
Man werde zwar versuchen, die bestehende Schwelle für den Zugriff auf diese Datensätze hinaufzusetzen, versprachen die Kommissionsvertreter. Besonders gute Aussichten dafür gibt es jedoch nicht, denn die USA hatten den EU-Verhandlern unmissverständlich klargemacht, dass sie die Daten nicht nur weiterhin bei niederschwelligen Straftaten heranziehen wollten. Der momentane Stand sei ein Strafrahmen von mehr als einem Jahr für ein Delikt. Der Zugriff auf die Daten ist ab da bereits durch das Abkommen gedeckt.
Die USA würden auch darauf bestehen, als weiteren Zugriffsgrund ganz allgemein "border security" ("Grenzschutz") in das neue Abkommen einzufügen, hieß es. Unter dieser allgemeinen Formulierung sind völlig beliebige Rasterfahndungen unter dem neuen Abkommen inkludiert.
Vorbehalte vieler EU-Staaten
Die österreichische Vertretung blieb allerdings bei ihrer Position und erneuerte mit Belgien, Finnland, Frankreich und den Niederlanden ihre Vorbehalte. Deutschland pochte auf seinen Prüfvorbehalt für den gesamten Text und die Rechtsgrundlage des Abkommens.
Sowohl die geplante Speicherdauer von 15 Jahren als auch das US-Verharren auf einem "Pull"-System wurden erneut kritisiert. Frankreich und Belgien zeigten sich misstrauisch gegenüber dem angeblichen Verhandlungserfolg der Kommission bezüglich der "Maskierung" der Datensätze nach fünf Jahren und verlangten eine ausführliche Beschreibung dieses Vorgangs.
Italien, Schweden kapitulieren
Italien hat hingegen seine noch in der letzten diesbezüglichen Sitzung der Ratsarbeitsgruppen geäußerten Vorbehalte offenbar zurückgezogen und signalisierte plötzlich Zustimmung zur Position der Kommission.
Den Vogel aber schossen die Schweden ab, die vor wenigen Tagen noch schwere Bedenken geäußert hatten. Die schwedische Abordnung betonte plötzlich, keine Probleme mehr mit dem Abkommen zu haben. Man sorgt sich nunmehr in erster Linie darum, wie man der Öffentlichkeit dieses Ergebnis der Verhandlungen am besten vermitteln könnte.
Malmström vor dem Ministerrat
Die für das Abkommen zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström stammt aus Schweden und muss am Montag den in Sopot versammelten Innen- und Justizministern den für Europa höchst unerfreulichen Stand der Verhandlungen referieren.
In den vergangenen Sitzungen der Ratsarbeitsgruppen war Malmström für den bisherigen "Verhandlungserfolg" der Kommission bereits arg gezaust worden.
Ende Mai war die EU-Kommission für den mit den USA ausgehandelten Abkommensentwurf von den Vertretern der Mitgliedsstaaten in der Ratsarbeitsgruppe GENVAL heftig kritisiert worden.
Dass Großbritannien als einziger EU-Mitgliedsstaat den Abkommensentwurf begrüßte, ist alles andere als ungewohnt und noch weniger verwunderlich. Der 1947 unterzeichnete und bis heute gültige UKUSA-Vertrag mit den USA sieht einen umfassenden Datenaustausch zwischen den Geheimdiensten dieser - und nur dieser - beiden Staaten vor.
Frankreich, Deutschland
Der heftige Widerstand Frankreichs und Deutschlands, der in allen bisherigen Sitzungen der Ratsarbeitsgruppen unübersehbar war, dürfte nicht allein von Sorge um Rechtskonformität und Datenschutz getragen sein.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit liegen den Geheimdiensten beider Staaten entweder Hinweise oder gar Erkenntnisse vor, dass die USA ihren exklusiven Einblick in das Gros der internationalen Flugbewegungen auch zu anderen Zwecken nutzen.
Machtlogik hier, Verzweiflung dort
Würde die führende militärische Macht der Welt ihr singuläres Wissen ex ante über sämtliche Reisebewegungen z. B. europäischer Wirtschaftstycoons und Topmanager nämlich nicht dafür nutzen, den eigenen Unternehmen Vorteile gegenüber dem internationalen Mitbewerb zu verschaffen, widerspräche das jeder Machtlogik.
Was die Kommission betrifft, so klingt an mehreren Stellen dieses in nüchternem Ton gehaltenen Protokolls doch so etwas wie Verzweiflung durch. Etwa, wenn die Kommissionsvertreter betonten, dass die Verhandlungen weitergingen, auch wenn die USA die Verhandlungen schon mehrfach für abgeschlossen erklärt hätten.
Redaktionelle Anmerkung
Von einer wörtlichen Übertragung der aus dem Protokolltext verwendeten Abschnitte musste aus Gründen des Quellenschutzes abgesehen werden. Was die Authentizität dieses aus "kleinem Kreise" stammenden Diplomatenprotokolls angeht, so wurde es eingehend auf semantische wie syntaktische Stimmigkeit überprüft sowie mehreren weiteren Plausibilitätschecks unterzogen.