Erstellt am: 19. 7. 2011 - 10:33 Uhr
Mein Herz macht Bum. Immer noch.
Es ist eben dann doch ein richtig echtes Festival mittelgroßer Größenordnung: Gut 20.000 Besucher plus rund 3.000 Akkreditierte, allen Ernstes und vom Gefühle her auch ein bisschen zu Recht genannte "Freunde" - so steht das auch hochoffiziell auf den Bändchen drauf - sind dieses Jahr zum Melt!-Festival gekommen. Speziell Samstag Nacht macht sich das dann im leicht zähflüssigen Vorankommen in den Menschenmassen bemerkbar, auch haben manche Besucher das Party-Niveau im eigenen Körper möglicherweise mithilfe von Substanzen schon über die Maßen aufgeschaukelt - allzu schlimm ist das nicht: Die Bierzelt-Laune und das oft damit einhergehende Nerv- und Aggressions-Potenzial, die einem oft andere Festivals madig machen, sind beim Melt! so gut wie gar nicht anzutreffen. Hier sind die Leute zu sehr damit beschäftigt, den American-Apparel-Schal in akurater Position zu halten.

Philipp L'heritier

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Auch an Samstag und Sonntag überschlagen sich die Höhepunkte, alles ist eine freundschaftliche Umarmung der musikalischen Welten. Andreas Dorau eröffnet den Samstag Nachmittag auf der Hauptbühne unter glühender Sonne. Dennoch sind gar nicht so wenige gekommen, um den in Hamburg ansässigen Musiker zu "erleben". Dorau ist ein großer Tänzer und hat sichtlich Spaß dabei, dem Publikum gemeinsam mit zweiköpfiger Band (Laptop, Schlagzeug) die schönen Lieder seines neuen Albums "Todesmelodien" vorzuspielen. Neben den Evergreens von Morgen, "Größenwahn" und "Stimmen in der Nacht", gibts natürlich haufenweise Klassiker aus dem an Klassikern nicht armen Dorau-Oevre: "So Ist Das Nun Mal", "Das Telefon Sagt Du", "Girls In Love" oder "Die Menschen Sind Kalt". Großartig. Ganz genauso und wie immer: Patrick Wolf, den man dieses Jahr vielleicht schon gesehen haben könnte und der ein wieder einmal wunderbares Konzert im blassblauen Anzug wie so oft auf dieser Tour mit dem saxofon-schwülstigen "In The City" beendet.

Philipp L'heritier

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Den Open-Air-Floor bespielen am frühen Abend die ebenfalls aus Hamburg angereiste DIAL-Posse mit RNDM, Pawel, John Roberts, Lawrence und Redshape, schon wieder ein sehr guter Mann mit Maske. Bessere elektronische Tanzmusik wird man im Augenblick nicht allzuoft irgendwo hören können. Zeitgleich erfreut das New Yorker Duo The Hundred In the Hands, das 2010 ein sehr gutes, merkwürdigerweise relativ untergegangenes Debütalbum bei Warp Records veröffentlicht hat, das große Zelt mit überdeutlich auf Blondie zurückgehenden Wave-Pop samt stärkerer elektronischer Note. Eine absolute Erscheinung des gesamten Wochenendes stellt der Auftritt von SBTRKT dar: Live bedeutet das zwei Mann mit Maske, die an Drums, Elektronik, allerlei Schlagwerk und Gesang einerseits den Dance-Charakter des Debütalbums stärker herausarbeiten, andererseits aber auch den Pop-Appeal und das süßliche Schmalz deftiger betonen.

Philipp L'heritier

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Planningtorock, das Projekt der in Berlin ansässigen Musikerin und Großkünstlerin Janine Rostron, taucht mit ihrem aktuellen, bei DFA erschienenen Album "W" das Intro-Zelt in eine beunruhigende Aura, die - sollten einem besseren Worte fehlen - sicher wieder einmal mit dem abgegriffenen Attribut "David Lynch" beschrieben werden kann: Saxofon, roter Vorhang, also super. Ebenfalls im Intro-Zelt und immerhin vom Legenden-Watching-Faktor her erbaulich: DAF. Sänger Gabi Delgado windet sich im Schmerz der Neon-Röhre. Neuere Stücke entbehren nicht der Komik, die Gassenhauer hören auch die zahlreichen Gäste aus Skandinavien und den Niederlanden gerne: Mein Herz mach Bum.

Philipp L'heritier

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Mike Skinner beginnt sein Konzert mit der Ansage: "Im Namen des Vater, des Sohn und des Heilige Geist!" The Streets kommen als richtige Band, die ihr Material überraschend stark rock- und ska-lastig interpretiert, andererseits ist ein DJ/Elektroniker mit an Bord, der samtweiche Disco- und Soul-Samples streut. Hört man "Dry Your Eyes" gemeinsam mit ein paar Tausend vor Glück benebelten Menschen, muss man eventuell bemerken, dass der Titel des Stückes sich auf die Reaktion auf das Lied selbst bezieht. Nebenbei verpasst man zum Beispiel die Junior Boys, die ihrerseits im Interview meinen: "Damn, we missed DAF!", die hier unglaublich beliebten Digitalism auf der Hauptbühne und echte Gitarren-Bands wie die White Lies, Beady Eye oder die Editors. Ob sich Liam Gallagher wohl geärgert hat, den Support-Slot für die Editors spielen zu müssen?
Die Australier von Architecture in Helsinki erweisen sich wieder einmal als höchstsympathische Live-Band, die finalen Headliner des Festivals sind Pulp. Pulp. Erwartungsgemäß eine ziemliche Erleuchtung, auch wenn nicht gar so viele den Weg vor die Bühne geschafft haben, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Verhältnismäßig. Es mag am tatsächlich heftigen Regen oder an den Abnutzungserscheinungen nach drei Tagen Rave-Kultur gelegen haben. Wirklich warm wird das Publikum nur bei den ganz großen Hits, "Disco 2000" z.B., die Darbietung des allerletzten Stücks, "Common People", gehört zu den schönsten Momenten des Festivals. Super ist aber freilich alles: "Something Changed", "Underwear", "Babies", die Entertainer-Qualtitäten Jarvis Cockers: "Can You Strip Down To Your Underwear? I Won't Tell Anyone." und: "Are You Going To See Richie Hawtin In A Bit? I Might Do That." So sollte es geschehen, und, falls man es noch dazusagen muss, dass hier am Ende des Festivals Pulp und der kanadische Minimal-Techno-Großmeister Hawtin in einem Satz zueinanderfinden, mag manch einer als Deutung der gesamten Veranstaltung verstehen.

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