Erstellt am: 16. 7. 2011 - 22:12 Uhr
Journal 2011. Eintrag 137.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit Anmerkungen zu der unhinterfragten Meta-Bedeutung, die Wikipedia erlangt hat - aus konkreten Anlass des unglaublich dumpfen Umgangs durch die Tea Party.
Es war ein Nebensatz in einem von schnöseligem Distinktions-Gehabe nur so triefenden "Hach, wie sind Amerikaner nur historisch ungebildet!"-Kommentar in einer sich heute in feucht muffelnden Monarchie-Träumen wälzenden Tageszeitung. Dort lauert der interessante Aspekt in diesem Fall.
Aber der Reihe nach.
Gerade die auf ihre kurze Geschichte und deren große Erzählung sehr erpichten konservativen US-Politiker versteigen sich gern in furchterregende Irrtümer. Das ist nichts Neues, erreichte mit G.W. Bush einen Höhepunkt und ist nur deshalb im Bewusstsein einer stark erweiterten Öffentlichkeit, weil die neuen Medien, vor allem die sozialen Netzwerke solche Bloopers massiv weitertragen. Nicht die Blödheit der Menschen wird stärker (die ist eine stabile Konstante), sondern deren schnelle Verbreitung.
So machte sich zuletzt etwa die religiöse Fundamentalistin, Ex-Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin (wieder einmal) lächerlich, als sie sich (ohne rechte Not, wie man hier sehen kann, einfach von selber rein in die Offenlegung ihres intellektuellen Elends plappert.
... the reincarnation of Paul Reveres horse ...
Denn der Ritt von Paul Revere, mit dem er 1775 die amerikanischen Kolonisten vor dem Angriff der Briten warnte, der ist ein Herzstück der Gründervater-Historie. Diese Geschichte kriegt jedes Volksschulkind immer wieder vorgelesen und erzählt.
Palin, die auf einer seltsamen Reise diverse historische Stätten aufsucht, die ihrer aktuellen politischen Heimat, der ultrareaktionären Tea Party, zum Zwecke der Vereinnahmung dienen können, wollte Paul Revere und seine historische Warnung entsprechend auf aktuelle Zustände umlegen. Dass Revere als Freimaurer nicht ins stockkonservative Anspruchsniveau passt - geschenkt.
Palins Gestammel deutet aber, überflüssigerweise, gleich noch mehr um. In ihrer Version warnte Revere die Engländer, so nach dem Motto: "Wir hau'n euch nieder, ihr Bösewichte!".
So weit so belanglos. Denn diese Aussetzer sind, siehe oben, Normalität in Hardcore God's Country.
Bemerkenswerter ist da schon der Versuch der Palin-Anhänger die zusammengestotterte Version ihres Idols im Nachhinein als "eh richtig" auszuweisen; so als ob ihr O-Ton die Wertigkeit von neuen historischen Entdeckungen hätten. (Da gibt es eh eine Menge zerschlagenes Porzellan, Revere hatte in Wahrheit nur einen Bruchteil des historischen Ritts selber durchgeführt, aber das wäre wieder eine andere Geschichte ...).
Die dümmsten Fälscher der Welt
Wie geht man so was an?
Ganz einfach: man schreibt den entsprechenden Wikipedia-Eintrag um. Denn der, so die Argumentationslinie der Palinistas, ist die erste Anlaufstation für Informationssuchende, und wenn man dort die Version der Chefin vorfindet, voila...
Das ist auf eine saudumme Art durchaus brillant.
Und offenbar eine echte Option im Aktions-Portfolio der Tea Party.
Michele Bachmann ist Wiederholungstäterin: sie war davor schon durch ihre groteske Behauptung die Gründerväter (also die Generation Jefferson) habe die Sklaverei bekämpft und abgeschafft (was in echt erst die Generation Lincoln mittels eines Bürgerkrieges tat) aufgefallen. Diesen Schwachsinnigkeiten folgte allerdings kein Betrugs-Versuch der nachträglichen Historien-Fälschung.
Als unlängst Michele Bachmann, der neue Shooting-Star der amerikanischen Rechten, die politaffinere Version von Palin und mögliche Präsidentschaftskandidatin für 2012, nicht vom (auch ohne Not, in einem ähnlichen Poser-Quassel-Anfall) behaupteten Irrtum, dass John Quincy Adams, der 6. US-Präsident einer der Gründervater gewesen wäre, runtersteigen wollte (Adams war zu dieser Zeit ein Kleinkind), gingen die Bachmanistas daran den Wikipedia-Eintrag von Adams entsprechend zu verfälschen.
In beiden Fällen scheiterten die Versuche, jämmerlichst.
Wikipedia hat eine Struktur, die auf "crowd sourcing" basiert, aber Administratoren aus dem Grassroots-Bereich des Netzes, die ganz klare Grundsätze haben: "Please don’t edit an historical article based on current events."
Niemand hackt Wikipedia
Und da wird es interessant.
Da prallen nämlich zwei Bewegungen aufeinander, die sich beide auf ihre Grassroots, also auf ihre Verbundenheit mit dem Volk, dem kleinen Mann berufen und daraus ihre Legitimität beziehen.
Im Fall der Tea Party steckt hinter dieser mit reichlich schiefen historischen Vergleichen hantierendem Bewegung allerdings gar keine selbstorganisierte Basis, sondern eine von glasklaren wirtschaftlichen Interessen (denen der Brüder Koch) gelenkte Schein-Community, die einen politischen Arm für ihre anarcho-totalitaristischen Ideen aufgebaut haben. Die Rechtsaußen der Republikaner, die sich historisch immer schon an die Interessen der Großkonzerne und der industriellen Komplexe verkauften, bieten sich als Instrumentalisierungs-Objekt optimal an; ein paar Rückgriffe auf eine mythologisierte Geschichte, der Verweis auf die Bedeutung der individuellen Freiheitsrechte, das Herumzündeln an der allgegenwärtigen Anti-Staat-Stimmung und die Forderung der völligen Abgabenfreiheit machen diese nur in den USA genießbare Melange aus trüben Konzepten massentauglich.
Die Tea Party und ihr Traum vom Kalifat
Trotzdem funktioniert das in erster Linie Top-Down.
Wenn die Geldgeber verschwinden, verschwindet auch die "Bewegung".
Denn die Falle beim von der Tea Party immer wieder eingeforderten Rückkehr zum religiösen Fundamentalismus der frühen Tage, noch vor den Gründervätern, als die Puritaner die ersten Kolonien befestigten, ist, dass es in den USA niemals einen flächendeckend-übergreifenden religiösen Fundamentalismus gegeben hat, sondern eine Menge sektenartige Gemeinschaften, die in zentralen Fragen alle höchst unterschiedliche Ansichten pflegen.
Die von der Tea Party implizit erhobene Forderung die Wiedererrichtung eines christlichen Kalifats zu betreiben, ist also ein historisch völlig ungedeckter Popanz.
Das meiste von dem, was rund um die Tea Party also nach Grassroots-Bewegung schreit, entpuppt sich als bewusst inszenierte Fiktion.
Und das merkt man nirgendwo stärker als in der Begegnung mit einer tatsächlichen Grassroots-Bewegung; mit der aktuell weltweit stärksten, mit Wikipedia.
Grassroots-Schwarm besiegt Grassroots-Schmäh
Denn der pure naive Glaube an die Möglichkeit mit einer simplen Änderung zum Falschen eine Situation bereinigen zu können, wird von einem tatsächlich nach Grassroots-Kriterien organisierten System sofort erkannt und zurückgestellt.
Der große und intelligente Schwarm Wikipedia lässt sich da nicht so leicht aushebeln - zu viele Korrektive sind da eingebaut, zu viele Menschen haben zu viel Herzblut investiert um es zerstören zu lassen. Und die handeln auch dann, wenn es keine Geldgeber gibt.
Die Palin/Bachmann vs. Wikipedia-Affäre hat also nicht nur den Sieg der echten Schwarms über den von Einzelinteressen gesteuerten Mob gebracht, sondern auch einen massiven Imagegewinn: Im universitären Bereich hat der Einsatz als Bollwerk der Lauterkeit gegen reaktionäre Geschichtsfälscher nach (ebenso reaktionärer) altkommunistischer Retuschier-Prägung die Akzeptanz bereits erhöht.
In einem universitären Bereich der mehr global kompetente, für eigenständiges Denken und Handeln ausgebildete junge Menschen fit für ein Leben und Arbeiten in den zukunftsträchtigen Bereichen jeglicher Art macht, als im deutschsprachigen Raum, oder gar in Österreich. Auch in Relation zur Bevölkerung. Von wegen ungebildete Amis und so.