Erstellt am: 16. 7. 2011 - 20:52 Uhr
With Every Heartbeat
Manchmal muss man fast ein bisschen weinen. Wie Nicolas Jaar da beispielsweise mit seiner Band auf der „Melt! Selektor“ genannten und einer avancierteren Schilfbude gleichenden Mini-Bühne, die zwar gerade noch auf Sandstrand, immerhin aber in etwa 3 Millimeter ans Wasser gebaut ist, ein großmusikalisches Kauderwelsch zusammenmusiziert, und dahinter die Sonne im mit Sicherheit giftigen Baggersee versinkt. Darüber ruhen die gigantischen braunen Metallvögel, die hier früher einmal Braunkohle aus der Erde gezogen haben, wo jetzt das Museum und Veranstaltungsgelände namens Ferropolis liegt.
Philipp L'heritier
Philipp L'heritier
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Es ist oft schon gesagt worden, wahr ist es auch dieses Jahr beim Melt!: Das Gelände des nahe des beschaulichen Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt stattfindenden Festivals ist kaum zu toppen. Nicht nur die Kulisse, die zunächst mit ihren vor sich hin rostenden Baggern/Kränen, die mit allerlei Leuchteffekt und den weltgrößten Disco-Kugeln geschmückt werden, angenehm mulmig machend droht, bald aber schon zur besten Freundin wird, sorgt für Eindrücke im Langzeitgedächtnis, auch die Anordnung der Bühnen und die vergleichsweise kurzen Wege dazwischen lassen andere Großfestivals vor Schreck blass werden. Von der linken Außenseite der Hauptbühne erreicht man die rechte Seite der zweitgrößten Bühne in einer Minute. Ohne Untertreibung. Dazu kommt ein vom Pop-Magazin Intro ausgerichtetes Zelt als Spielort, eine quasi fast schon in einen der Kräne hineingeschraubte DJ-Kanzel zur Beschallung des tatsächlich gepflegten und gar nicht mal beängstigend großen Open-Air-Ravens und besagte, von Modeselektor kuratierte Bühne am Strand.
Philipp L'heritier
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So schön hier beim Melt! auch alles anzusehen ist, gekommen ist man dann ja doch vor allem wegen der Musik. Das Programm des Festivals ist jedes Jahr eine ziemliche Erleuchtung: Begonnen als relativ eindeutige Dance-Veranstaltung mit Ausrichtung Techno, hat das Melt in den letzten Jahren seine Arme deutlich Richtung Indie und allgemein avanciertem Pop ausgefahren – freilich nicht selten mit elektronischen Tupfern und ebensolchem Unterbau. Modeselektor, die Freunde jeglicher Bass-Musik quer durch alle Lager, haben neben Nicolas Jaar, der - atemberaubend großartig - experimentelles Geknackse und Jazz-Abenteuer behutsam in zerdehnte, auseinanderzufallen drohende House Musik schiebt, freilich ihren alten Spezi Apparat samt Band auf ihre Bühne geholt. Außerdem brandneu heiß seiende englische Musikanten, die das Fundament von Dubstep bloß noch als Startbasis für die Formulierung von R'n'B und großem Pop nutzen. SBTRKT, der Mann mit der Maske, oder Jamie Woon, der sich beim Melt! endgültig als Wiedergänger von Prince und Justin Timberlake empfiehlt.
Philipp L'heritier
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Dazwischen gibt’s die erste Liga deutscher DJs aus den Lagern Kompakt, DIAL oder Berghain und junge Zuckerwatte-Bands, für die die Grenzen zwischen "Indie/Gitarre" da und "Synthie/Elektronik" dort bloß noch eine alte Story der Großeltern gewesen zu sein scheint. Foster The People, Is Tropical und The Naked And Famous, die live mitunter auch die Idee "Shoegaze" bemühen, auf der großen Bühne als Fast-Headliner. Nach eineinhalb Takten "Young Blood", dem Hit mit dem niemals versagenden "Yay-ieh-yeah", flippen alle Menschen aus.
Gar nicht schlecht ist auch die mit großer Absicht unsympathische Band The Drums. Live klingt das, was die stilbewussten Herren da so machen, noch stärker nach britischem Wave und Gitarren-Indie der späten 80er und frühen 90er. Der Sänger ist eine einzige schöne Pose, bemüht sich als fühlender Ausdruckstänzer, ist ganz Suede und ein Morrissey ohne Gladiolen. Fast gleichzeitig und dann doch viel besser: Cut Copy. Der australischen Band, die mit "Zonoscope" heuer ein Album des Jahres veröffentlicht hat, gelingt die gute alte Verwurstung von Disco und funky Gitarren-Kram noch zwingender als auf Platte. Nett sind sie auch.
Philipp L'heritier
Philipp L'heritier
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Was ist die Abteilung „Pop“ anbelangt, ist der Hauptact auf der Hauptbühne Freitag Nacht Robyn, Popmusik in ihre silberfolienhaftesten, besten Ausformung. Die schwedische Alleskönnerin ist auch der Höhepunkt des ersten Melt!-Tages. Mit ihrer Überkreuzung von Fly Girl und Disco-Diva hat sie an diesem Tag jeden Menschen auf ihrer Seite. Der Hit – der Hit! – „Dancing On My Own“ kommt sehr früh im Set – lauteres Jauchzen aus dem Auditorium hat man selten vernommen. Den Abschluss macht das Triumvirat „Call Your Girlfriend“, „Hang With Me“ und „With Every Heartbeat“. Genau.
Um 3 Uhr morgens könnte man dann noch zu Miss Kittin, die ihren eigenen Geburtstag an den Plattentellern feiert, den Dancefloor zerstören, sich im Intro-Zelt eine gute Indie-Disco-Auflegerei anhören oder aber mitterleben, dass nach Robyn doch noch eine Steigerung – immerhin, wenn schon nicht musikalisch, was Energielevel und Wellenbewegungen im Meer an Händen und Köpfen vor der Hauptbühne anbelangt – möglich ist. Da kommt nämlich das aktuell größte Berliner Techno-Unternehmen, ohne das im Moment kein Festival zwischen Wr. Neustadt und Rio de Janeiro auszukommen scheint – der Großwesir der T-Shirt-Mit-V-Ausschnitt-Nation, der Paule. „Sky And Sand“ geht halt immer. Es knallt. Muss wohl so sein.
Philipp L'heritier
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