Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "It takes a muscle to fall in love"

Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

9. 7. 2011 - 17:10

It takes a muscle to fall in love

Meinen empirischen Beobachtungen zufolge haben Menschen mehr Sex, wenn die Temperaturen steigen. Exit Tag zwei.

Meinen empirischen Beobachtungen zufolge haben Menschen mehr Sex, wenn die Temperaturen steigen. Es ist sehr heiß in Novi Sad. Das dürfte auch dem Marketing-Department der Pharmafirma Richter nicht entgangen sein. Auf dem Weg zu dem Festivalgelände verteilen Promogirls in T-Shirts mit der Aufschrift Aftersex nicht etwa Kondome, sondern Flyer für die Pille danach.

natalie brunner

Mir ist gar nicht nach Sex zumute, als ich das Festivalgelände betrete, obwohl es körperlich bleibt. "Ah, Tigerkäfiggeruch" meint L. Eine spezifische Geruchsnote, die durch die Kombination von Bier, Schweiß und Urin entsteht. Wie so etwas auf einem derart großen Areal sein kann, weiß ich nicht, dieser Geruch reicht bei mir jedenfalls als Verhütungsmittel - ich werde wohl nie in die Verlegenheit kommen, das Produkt, das die Damen vor der Tür bewerben, bei einem Festival zu verwenden.

natalie brunner

Ich soll Amadou und Mariam treffen und interviewen, ein blindes Musikerehepaar aus Mali, das seit Mitte der 70-er Jahre gemeinsam Musik macht. Sie fusionieren Elemente der traditionellen Musik Malis mit Rockgitarren und Percussions, Sirenen und Dubelementen. Ich hab irgendwo die Bezeichnung Afroblues für ihre Musik gelesen.

www.youtube.com

Manu Chao hat ihr 2005 erschienenes Album "Dimanche a Bamako" produziert und ihre Soundästhetik hörbar beinflusst. Das dürfte ihnen Bekanntheit über die Kreise der WeltmusikfreundInnen hinaus beschert und sie auf die Main Stage des Exit-Festivals gebracht haben. Als ich sie frage, ob sie bei Festivals wie diesem manchmal etwas hören, das sie beeinflusst oder inspiriert bejahen sie zwar freundlich, fügen aber hinzu, dass sich mehr persönliche Freundschaften und mögliche spätere Zusammenarbeiten anbahnen, als dass sie direkte Ideen oder Einflüsse mitnehmen.

natalie brunner

Was sich hinter der Bühne abspielt ist ziemlicher Wahnsinn. Die Pressebetreuer drehen durch, weil so viele Interviews abgesagt wurden und ich unterstelle einem französischen Fernsehteam, dass es durchaus anfangen würde, im Paparazzistyle Leute wegzustoßen, um zu filmen, wenn die Exit-Aufpasser das nicht genau regeln würden. Das Stress- und Agressionslevel ist mir zu hoch, mit Musikjournalismus oder sinnvoller Kommunikation hat das hier nichts mehr zu tun und unter solchen Bedingungen kann man sowieso keine Wahrheiten erfahren.

exit

Ich ziehe es vor, mich während der Wartezeit auf M.I.A. historisch zu bilden. Erstaunt stelle ich fest, dass die Festung von einem 16 Kilometer langen Tunnelnetz durchzogen wird. Ob deshalb vor der Tür die Pille danach beworben wird? Ich finde keinen Eingang. Auf dem Weg zum M.I.A.-Konzert sehe ich das bizarrste Pärchen seit langem: Er auftrainierter Muskel-Nazi mit Anti-Antifa-T-Shirt, sie White Trash Danchall Queen mit pinkem Top und Minirock und den furchtbaren Ich-war-in-der-Karibik-auf-Urlaub blonden Zöpfchen am Schädel.

natalie brunner

L. kommt vom Zigaretten kaufen mit einem Typen zurück, der sein neuer bester Freund sein will. Er hat zwei Jahre in Wien gelebt, findet aber, dass es dort viel zu viele Serben gibt und will auch noch L.'s Telefonnummer haben, als wir klargemacht haben, daß wir jetzt weder XTC noch Kokain von ihm kaufen werden. Es wird bizarr: Ich stelle klar, daß ich L.'s bester Freund auf Lebzeiten bin und wir zu M.I.A. müssen.

Ich muss euch gestehen in war bis gestern in puncto M.I.A Häretikerin. Alles uninteressant, das dritte Album braucht kein Mensch mehr, ihre Soundästhetik hat sich überholt und ähnlichen unreflektierten Blödsinn habe ich von mir gegeben. Aber nein, meine Schwestern und Brüder, ich habe gestern, bei ihrem Konzert das Licht gesehen - oder besser - ich habe Blockparty in Full Effect gehört. Ich bin große Freundin von spontanen oder geplanten Zusammenrottungen auf der Straße oder sonstwo, bei denen die Menschen ihr Recht auf den öffentlichen Raum in Anspruch nehmen. Die Block Parties in der Bronx die ich nur aus Dokus und Bildbänden kenne, wo Hip Hop geboren wurde, die Reggae Sound Systeme in Jamaica und London, der Carnaval in Südamerika, die Soca Parties in Trindidad, und natürlich die Baile Funks von Rio. Das sind alles Veranstaltungen, die mit Freiheit, Freude, Solidarität und Autonomie zu tun haben. Da zahlt keiner Eintritt, das ist eine Feier der eigenen Kultur von den Menschen für die Menschen ohne dass finanzielle Interessen im Vordergrund stehen würden. Ich liebe das und M.I.A auch und deshalb liebte ich ihre Show.

exit

Es hatte von vorn bis hinten die Soundästhetik einer Blockparty, keine Sekunde Stille, sich permanent überlagernde Klangteppiche. Frau Mathangi Arulpragasam war hier to represent the world town. Sie spielte ein Bollywoodintro zu dem sie gurgelte und dann ging es auch schon los mit den Sirenen und Airhorns. In M.I.A's Band sind nur Frauen. Ihr Bühnenbild ist eine psychedelische Low Tech Tron-Variante inklusive einer kleinen Imperatorenkanzel auf der das Power-Symbol aka Ein- und Ausschaltzeichen prangt. M.I.A. beginnt ihre Show mit Galang und lässt alle Fotographen aus dem Graben auf die Bühne, benutzt sie als dramaturgisches Element ihrer Show. Wie eine große Diva singt sie die erste Nummer im Blitzlichtgewittter. Die Visuals sind schiessende Frauen aus 70er Jahre Filmen. Die zweite Nummer ist Bucky Done Gone, in ihre Carnaval Soundkulisse mischt sie nun exzessiv Apple Sounds, eine kleine Erinnerung, dass manche sich in der Benutzeroberfläche ihres Computers heimischer fühlen als in ihrer Wohnung. Ihre Kostüme und ihr Bühnenbild schauen aus wie die NuRave-Version von dem, was sie auf meinem geliebten Brunnemarkt in Ottakring an Gewand und Accessoirs verkaufen. Sie bringt den Chic der Ein-Euro-Shops auf die große Bühne, dazu singt sie irgendwas von wegen "represent the world town", ästhetische Codes, Muster und Kleidung, die man mit Armut, Migration, trashigen Straßenmärkten in Verbindung brachte, werden zum Style erhoben. Vielleicht ist das zu wenig, um es politisch zu nennen, aber wer außer M.I.A. hat es getan?

exit

Boyz ist die nächste Nummer. Wie oft habe ich mich geärgert über Typen, die Tänzerinnen in einer sexistischen und exploitativen Weise Arsch wackeln ließen. M.I.A. hat einen weißen Dancehall-King als Tänzer, womit alle Klischees umgedreht wären. Der liebe Afrikan Boy ist auch mit auf Tour, er kommt zu Hustle auf die Bühne. Er hat sein Soziologiestudium und neues Mixtape fertig.

Mit Hustle wäre der erste Hit Block beendet. M.I.A geht von der Bühne, Airhorns und an Suicide erinnernde Flächen sind zu hören. Sie kommt zu zurück, um etwas zu jodeln und das mit Breakcore zu kombinieren. Es ist die erste Nummer bei ihrer Blockparty, die nicht rebellisch euphorisch ist, sondern fast düster. Afrikan Boy springt ins Publikum und holt Kids auf die Bühne. Soweit ich es sehe sind es fast nur Mädchen. M.I.A. spielt keine Nummern mehr, sondern nur mehr Sounds, eine geloopte E-Gitarre. Die Bühne ist voll mit Menschen und ein Dubstep Bass rollt über uns herein. Das Ganze wird zu Breakcore und M.I.A. hüpft am Bühnenrand mit dem Rücken zum Publikum dem Gesicht zu ihren Gästen wie ein Riot Cheerleader vor ihnen auf und ab.

Irgendwann schreit sie durch ihr Mikro: "I can't work like that." Aus dem ganzen Soundbrei schält sich schön langsam Born Free heraus.
Paper Planes beginnt mit einer Airhorn-Orgie und Afrikan Boy rappt seine Migrationsgeschichte, wie er aus Nigeria als Teenager alleine nach London kam.

Die M.I.A.-Show war eine dichte und kompakte ästhetische und inhaltliche Inszenierung - etwas worin auch Underworld Meister sind.

Auf dem Weg zur Dance Stage, wo Underworld spielen, stelle ich mit Schrecken fest, das ich das Set der jungen britischen Produzentin Maya Jane Coles verpasst habe. Sie stand vor Underworld am Line Up.

Das muss unbedingt demnächst nachgeholt werden.

Underworld spielen in einer Arena, einem Kessel, den man über Treppen von oben betritt und in dem, als ich runtergehe, schon an die Zehntausend raven. Underworld spielen "You bring light in", eine Nummer, die bei mir pharmazeutisch wirkt, Endorphine freisetzt und ich mir gar nicht mehr überlegen muss, ob ich das gut oder schlecht finde.

Direkt dannach Scribble, die ähnliche Wirkung hat - offensichtlich nicht nur auf mich - weil vor mir Ladies eine Mischung aus Vogerl- und Ausdruckstanz aufführen. Underworld spielen alles live - auf der Bühne steht ein mindestens 32-Spuren-Mischpult. Auf den Leinwänden sieht man Visuals von Körpern, die sehr an 90-er Jahre Videokunst erinnern. Aufnahmen und Collagen von Gesichtern die sich mit Zeit, Körperlichkeit, Überlagerung beschäftigen.

exit

Als Underworld eine Nummer spielen, die weniger Endorphine in meinem Hirn freisetzt, merke ich, dass ich auf sowas wie dem Mittelstreifen einer Autobahn herumzapple, links und rechts ziehen und drängen Menschen in entgegengesetzte Richtung vorbei. Ich kriege Platzangst und muss raus. Als letzte Nummer spielen sie - wie könnte es anders sein - Born Slippy. Alle brüllen mit und L. bemerkt, dass diese Nummer wohl ganz oben ist im Olymp der vermeintlich sinnlosen Lyrics, die doch jeder auswendig kennt ist. Beim Outro sind alle Hände in der Luft, Underworld strahlen, Liebe schwappt in Richtung Bühne und sie gehen mit den Worten "Serbia is a sea of smiling faces" ab. Ein schöner Moment.

exit

Ich will eigentlich nur noch schlafen, aber Detroit-Legende Carl Craig spielt. Ich muss raven und verfalle für den Rest der Nacht in das, was mein alter Freund Spaceant den "boxenden Kangaroo-Modus" nennt.