Erstellt am: 2. 7. 2011 - 20:24 Uhr
Journal 2011. Eintrag 128.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit Tag 2 der Jahreskonferenz des hochkarätigen Journalisten-Zusammenschlusses Netzwerks Recherche in Hamburg.
Freitag, Teil 1: Die Häppchenkamera und andere Begebenheiten auf der Hamburger Journalisten-Konferenz.
Sonntag, Teil 3: Die deutschen TV-Quasselrunden, die alten Sehnsuchts-Räume des Club 2 und die österreichische contra-Chance.
Zuerst die Selbstkritik. Das Radio-Panel am frühen Vormittag brachte nicht viel. Wo sonst der Status Quo als selbstverständlich vorausgesetzt wurde und man sofort in die scharfzüngige Analyse und den Diskurs abbog, gab es hier recht viel Selbstdarstellung. Schon klar, dass in einem nicht im Überschwang mit interessanten Radios gesegneten Raum wie dem norddeutschen die Interessanten aus Berlin (radioeins), Köln (DRadio Wissen) und eben Wien (eben mich) eingeladen wurden - etwas mehr Lage und Aussicht wäre aber noch interessanter gewesen. So bekamen einander die Kollegen in die Haare, und meine Versuche, den radiomäßig harschen Konformismus oder die Philosophie der Programm-Prinzipe auf die Agenda zu bringen, scheiterten.
Whatever, ich bin zwar nominell als Panel-Teilnehmer hier, aber als einziger Österreicher hier bei der Jahreskonferenz des Journalisten-Zusammenschlusses Netzwerk Recherche ist es doch primär mein Job zuzuhören, was zu lernen und zu erfahren und es dann weiterzugeben.
Grass spricht vor/zu den "Kollegen"
Heute ist das der frühnachmittägliche Paukenschlag, die Rede des Günter Grass. Grass, vielleicht der einzige deutschsprachige Schriftsteller von jetzt schon historischer Bedeutung, der sich nicht nur immer schon in die politische Debatte eingemischt hatte, schon vor allem der einzige, der sich auch immer des Journalismus angenommen hatte (und die Anwesenden wegen der schreiberischen Verwandtschaft auch als Kollegen bezeichnet), nimmt das Tagungs-Thema des glücklichen Sisyphos zum Ausgangspunkt für einen furiosen Text, den er (seinen 83 zum Trotz) ebenso furios vortrug.
Der Text wird erst am Montag veröffentlicht werden, in der Süddeutschen Zeitung - also hat die Vorab-Berichterstattung darüber sogar sowas wie News-Wert im klassischen Sinn.
netzwerk recherche
Grass startet bei seinem Idol Albert Camus und dessen Sisyphos-Essay von 1942 (damals im widerständischen Verlag Gallimard erschienen), das ihn nach dem Krieg massiv geprägt hat, sein einziger Heiliger wäre der Steine-auf-den-Berg-Roller, und landet sofort beim aktuellen Stand des Journalismus; des deutschen zwar, aber 95% von all dem trifft auf hiesige Verhältnisse genauso zu.
Man lebe von der Hand in den Mund, von den immer neuen Sensationen, und nehme sich keine Zeit für Hintergründe; Selbst- oder Branchenkritik existiere, abgesehen vom sanktionierten Bild-Zeitungs-Bashing nicht. Die einzigen, die in den letzten Jahren ein schlechtes Gewissen gezeigt hätten, wären die schlimmsten Versager gewesen: die Wirtschaftsjournalisten. Sie, meint Grass, sind durchaus mitschuld am Aufbau einer Parallelgesellschaft, nämlich der von der realen Ökonomie völlig losgelösten Finanzwirtschaft, der Herrschaft der Banken, die außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Übereinkunft agieren würden.
Die demokratiegefährdende Parallelgesellschaft der Banken
Die und deren Lobby-Arbeit bedrohen die Demokratie mehr als alles andere, was als Gefahr an diverse (Medien-)Wände gemalt würde.
Später im Gespräch mit NR-Chef Thomas Leif zitiert der den Umweltminister Röttgen mit dem Spruch, dass die neuen Umweltgesetze samt Atomausstieg nur deshalb im Schweinsgalopp durchgepeitscht wurden, damit die Lobbyisten keine Zeit haben sie abzuschießen. Anders (als durch den öffentlichen Druck, der nach Fukushima entstanden war) hätte man gar keine Chance gehabt. Leif nennt das einen Erkenntnisgewinn, Grass sieht das als Bankrott-Erklärung des Systems.
Grass macht diesen Einfluss der Lobbyisten, die die Gesetze diktieren, die niemand zu kontrollieren vermag, hauptverantwortlich für den Politik-Frust aller. Er fordert eine fünfjährige Karenzfrist für Politiker, die direkt nach der Abgabe ihrer Ämter in die Konzerne wechseln wollen - auch weil sonst die Käuflichkeit bald zu krass wird.
Vom Journalismus verlangt er mehr und besser mitzudenken. Es sei doch nicht möglich, dass angesichts der Forderung, die Wirtschaftshilfe für Griechenland mit einem Treuhand-Modell zu koppeln, das sich um den Verkauf staatlicher Einrichungen kümmert, der deutsche Journalismus nicht das identische Modell anlässlich der deutschen Einheit, also der wirtschaftlichen Einverleibung des Ostens durch den Westen thematisiere.
Ist dieses System noch zumutbar?
Dann stellt Grass, angesichts einer zunehmend verstärkten Klassengesellschaft, die eine wachsende verarmende Mehrheit immer mehr von einer reicher werdenden Oberschicht trennt, angesichts des Versagens bzw. Endes der sozialen Marktwirtschaft (was in den 90er de facto passiert wäre) die Systemfrage.
Ist die Demokratie innerhalb eines kapitalistischen Systems, das sich zunehmend der Parallelgesellschaft des Finanzwesens unterwirft, überhaupt noch zumutbar? Sind Markt-Konsum-Profit als dreifaltiger Religionsersatz tauglich? Und sind die Hinweise darauf, dass sowas nur global zu lösen wäre, nicht nur Ausreden?
Grass sieht in der Auflösung und dem Zerfall der herrschenden Ordnung die Gefahr eines nationalistischen Comeback des Grauens, und er hält die Demokratie unserer Prägung für reformfähig.
Die Rolle der Medien dabei ist es, seiner Meinung nach, die Finger klar und deutlich in die Wunden zu legen, wenn sie noch frisch sind. Das wird aber nicht durch die politischen Quasselrunden im TV und den immer neuen druckfrischen Opportunismus passieren; auch nicht durch den mutlosen Weichspüler des Mythos von der Ausgewogenheit der Berichterstattung.
Die gibt es nicht, sagt Grass und zitiert Camus und dessen Plädoyer für den permanenten Widerspruch. Und dann diesen Satz: Niederschmetternde Wahrheiten verlieren an Gewicht, wenn sie erkannt werden.
Diese lebenslange Fronarbeit ist die Aufgabe des Journalismus. Der Kampf, auf den Gipfel zu kommen, vermag ein Menschenleben auszufüllen. "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."
Journalismus als lebenslange Fronarbeit
Grass sagt Danke und setzt sich, der Saal tobt.
Thomas Leif fragt noch ein wenig nach, worauf Grass seine Nachkriegs-Geschichte der verordneten Demokratie (samt britischem öffentlich-rechtlichem Rundfunk-Modell) erzählt und davor warnt, dass man sie als per se gesichert ansehen sollte. Sie bestehe nur, wenn die Bürger sie mittragen.
Leif zitiert dann Norbert Lammert, den deutschen Bundestags-Präsidenten, der unklängst offen davon sprach, dass die parlamentarische Demokratie bereits ein Legitimierungs-Problem habe. Das habe in intellektuellen Zirkeln, auch unter den Journalisten, zu heftigen Diskussionen geführt - öffentliche Debatte wurde daraus keine, dazu ist, was die Deutschen Echtzeit-Journalismus und Echtzeit-Politik nennen, bereits zu übermächtig. Und es stützt Grass' Satz, dass die Medien nur noch von der Hand in den Mund leben würden und ein Substanz-Problem hätten.
Und dann sagt Grass das, was der junge Herr Augstein, der Freitag-Verleger Jakob, am Vormittag in einem anderen Zusammenhang geäußert hatte: dass reines Bildzeitungs-Bashing nicht genügt; vor allem, wenn - wie Grass das wenig fein formuliert - scheinbar seriöse Medien die Alltags-Praxis der Bildzeitung unreflektiert übernehmen, kampagnisieren, hoch- und niederschreiben, nicht mehr an Zusammenhängen und ihrer aufklärenden Beschreibung interessiert sind, sondern sich in lustvoller Konformität verlieren.
Die Angst vor Stellung und Haltung
Eine der Nachfragen, die sich meist ein wenig zu sehr im Schatten des Grass'schen Helden-Mythos ducken, wagt es dann das vielleicht größte Problem der schweigenden Journalisten-Mehrheit zu formulieren. Diese aufklärerische Sisyphos-Arbeit, die wäre doch vielleicht in manchen Fällen mit dem Problem verbunden, das man Partei ergreife, sich mit einer Sache gemein mache, sagt der Frager. Und das, so wird es einem in der Journalistenschulen-Taferlklasse beigebracht, gehe doch nicht.
Grass sieht den betreffenden Herrn sehr müde an. Er hat merklich keine Geduld mehr, jemandem, der vor eingelernter Angst schlotternd, den Unterschied zwischen vorgeblicher Neutralität, weichgespülter Scheinausgewogenheit und dem mutigen Ansprechen von Ungereimtheiten, dem Finger-in-die-Wunde-Legen nicht kapiert.
Drei Nachfragen später ist die eingeplante Stunde vorbei, Grass schiebt sich eine fast schon parodistisch anmutende Pfeife in den Mund und verlässt mit seiner Frau den Saal.
Ob die Systemfrage gestellt, ob zumindest darüber diskutiert werden wird, wird sich nächste Woche, nach der SZ-Veröffentlichung weisen. Wenn nicht oder wenn nicht sinnhaft, dann wird der alte Sisyphos es dann später halt wieder und noch einmal machen.