Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Mit Björk im Biologiesaal"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

1. 7. 2011 - 13:33

Mit Björk im Biologiesaal

Was ich bei der gestrigen Uraufführung von Björks neuem Programm "Biophilia" im Rahmen des Manchester International Festival alles gelernt habe.

Die Vorzeichen waren ja nicht unbedingt die besten. Wenn eine erfolgreiche Künstlerin sich durch ihre Allmachtsfantasien zur Ambition verleiten lässt, Natur, Technologie, Musik und das ganze Geheimnis des menschlichen Lebens und des Planeten überhaupt, nein, des Universums auf bisher ungehörte Weise in einem multimedialen Konzept zu vereinen, wenn sie zur Präsentation dieses Konzepts gar nicht erst selbst erscheint und stattdessen ihre aufgeregten Kollaborateusen/eure (die von der amerikanischen Plattenfirmentante ihrerseits jeweils als „Superstar“ bzw. „Superstar in the Making“ vorgestellt werden) erklären lässt, dass sie bei der Erschaffung von „Biophilia“ das Gefühl gehabt hätten, einem mit der Erfindung von Film oder Oper vergleichbaren Innovationsschritt beizuwohnen, dann muss man sich erst einmal große Sorgen machen.

Und das, was wir auf der Multiscreen von den Apps zu sehen bekamen, die dieses Album zu so einer völlig neuartigen Erscheinung machen sollten, vermochte diese Sorgen nicht zu zerstreuen. „Educational“ sollte das sein, sagte die beteiligte Musikologin Nikki Dibben.

Man kann etwa die Noten zu jedem Song studieren, stattdessen aber auch eine alternative, abstrakte Partitur erforschen, gemeinsam in einem Raum mit mehreren iPads musikalische Spiele spielen... Flucht, der erste Gedanke.

Nach jenem Pressetermin im Museum of Science and Industry, wo all das vor sich ging, führte man die aus ganz Europa angereiste Journaille (inklusive yours truly) dann aber ums Eck in die Campfield Market Hall, eine große viktorianische Markthalle aus Stahl und Glas, wo die Premiere der zugehörigen Show stattfinden würde, und die gute Hoffnung stieg immens.

Sharpsichord

Robert Rotifer

Das Sharpsichord und sein Erfinder (Namen, Rotifer, Namen!)

Zuerst zeigte man uns das sogenannte Sharpsichord, bestehend aus der Mechanik und dem an einer Art überdimensionalem Nähmaschinenfuß vertikal befestigten, mit Saiten bespannten Eisenrahmen eines Spinetts, sowie der Walze einer gigantischen Spieluhr, zwei großen Schalltrichtern aus Stahl, der Tastatur eines Harmoniums und Solarkollektoren oben drauf. Der Erfinder dieses trotz seiner Größe erstaunlich leisen Monstrums führte den einen (!) Björk-Song vor, den er mittels in die Walze gesteckter Zäpfchen mechanisch einprogrammiert hat. Das wahnwitzige Missverhältnis von Aufwand und Resultat hatte was Heroisches.

Die mit MIDI automatisierten Orgeln gleich daneben kamen einem im Vergleich dazu beinahe gewöhnlich vor, ganz im Gegensatz zur wahrlich unglaublichen von Schwerkraft betriebenen Harfe, einer Kombination zweier ca. drei Meter hoher Holzgerüste, an denen jeweils zwei Pendelarme schwingen, deren untere Enden rundum mit Harfensaiten bespannt sind.

Gravity Harp

Robert Rotifer

Die schwerkraftbetriebene, elektrisch gesteuerte Pendelharfe

An den Gerüsten selbst sind Plektren befestigt, die die Saiten der Pendel im Vorbeischwingen anschlagen. Mittels elektrischer Motoren werden die Pendelenden so gedreht, dass die in verschiedenen Tonhöhen gestimmten Saiten in der Synchronität der Bewegungen der vier Pendel die gewünschte Melodie ergeben. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass dieses irrwitzige Gerät auch bloß in einem einzigen Song der Live-Show Anwendung findet (es braucht aber die Spieldauer der zwei vorangehenden Songs, um sich einzuschwingen).

Tesla Coil

Robert Rotifer

Blitzende Teslaspule, sieht im Dunklen besser aus

Übertroffen wird dieses Instrument nur noch von der gigantischen Teslaspule, die in einem Gitterkäfig von der Decke hängt. Dieses Ding erzeugt nicht nur enorm hohe Spannungen, die sich als Blitze zwischen den zwei Spulen entladen (das ist physikalisch vermutlich schon falsch ausgedrückt, bitte um Vergebung), sondern gibt dabei auch einen brummenden Ton von sich, dessen Frequenz sich so steuern lässt, dass man damit Melodien erzeugen kann.
Konkret die Basslinie des Songs „Thunderbolt“.
Unfassbar.
Und einigermaßen furchterregend.

Der musikalische Direktor der Show (Namen, Rotifer, wo sind die Namen!) führte uns noch den berühmten ReacTable vor, aber das war im Vergleich zu den anderen elektronisch/mechanischen, analog/digitalen Wunderdingern dann schon kaum mehr der Rede wert.

automatische Orgeln

Robert Rotifer

automatisierte Orgel

Wie soll ich sagen, die Stunden vergingen, der Abend kam, und wir fanden uns an demselben Orte wieder, unter 1800 Leuten auf vier rund um die Bühne gruppierten Stehtribünen, und die Stimme des David Attenborough (Urvater des britischen Naturkundefernsehens, in deutschsprachigen Landen kennt man ja eher seinen Bruder) leitete mit gewichtig gesprochenen, esoterischen Worten die Aufführung ein.

24 bloßfüßige, junge Frauen (der Chor) in gold- und kupferfarben glänzenden Kleidern liefen auf die Bühne, zwischen ihnen eine Kreatur in blauer glitzernder Kleidung mit einer regenbogenfarbenen, überdimensionalen Afro-Perücke.

Björk.

„Brilliant woman!“, stieß eine Frau aus dem Publikum bewundernd hervor.

Dach der Markthalle

Robert Rotifer

Das Dach der Markthalle. Während des Konzerts durfte übrigens nicht fotografiert werden.

Die Schau begann gleich mit dem Knalleffekt „Thunderbolt“, die Spule blitzte heftig, der isländische Frauenchor schrillte, die Bildschirme über der Bühne zuckten synchron dazu. Von Anfang an bis zum Ende des Konzerts war alles nie auch nur eine Sekunde des Zweifels duldende, pure Präzision.

Das am selben Tag veröffentlichte „Crystalline“ entlockte dem Publikum bereits mit den ersten paar Takten ein Johlen der Wiedererkennung, die Animationen der dazugehörigen App, die am Nachmittag ein bisschen müde gewirkt hatten, entwickelten in der dunklen Halle einiges an Tiefe.

Der Biologie-Unterricht-Subtext manifestierte sich in Gestalt animierter DNS-Stränge. „Trunk of DNA“, sang Björk, „Trunk!“, während sich jene DNS-Stränge zu menschlichen Antlitzen im Stil Arcimboldos manieristischer Porträts aus Früchten formierten.

Dazu in charakteristisch wissend-naiv atemloser Art vorgebrachte Zeilen, wie nur Björk sie sich leisten kann: „Like a mushroom on a tree trunk as the proteine permutates“.

Eine andere Zeile, die ich aufgeschnappt habe: „If you leave it alone / It might just happen anyway / … / Well, it never really works“
Talk about Selbstironie, angesichts dieser perfektionistisch durchexerzierten Darbietung.

Gerade als klar zu werden schien, dass wir es hier trotz der Stehplätze mit einer Zeitgenössische-Musik-Performance und keinem Pop-Konzert zu tun hatten (die kaum je wiederholten, von Chor-Passagen untermalten, sich entlang dislozierter Cluster-Akkorde windenden Gesangslinien bzw. die weitgehende Absenz jeglicher Beats – Webern oder was?), streute Björk zur Auflockerung eine erstaunliche Interpretation von „Isobel“ mit dem Frauenchor in der Rolle des Streichorchesters ein, gefolgt von einer der wenigen Bühnenansagen des Abends: „Manchester! Graham Massey is here tonight! Don't forget!“

Dann auf den Bildschirmen ein Gewimmel laufender Seesterne, vermutlich aus dem gemeinsam mit Michel Gondry gedrehten, nie fertiggestellten 3D-Film, aus dem das Konzept zu „Biophilia“ hervorgegangen sein soll.

Björk erklärt uns mittels Lied und Video die tektonischen Platten, dann greift sie mit "All is Full of Love" aus der „Homogenic“-Ära noch einmal auf die eigene Geschichte zurück und beendet ihre Vorführung mit einem neuen Song: „Cosmogeny. Music of the spheres. Equilibrium“, sagt Attenborough. Die eingangs erwähnte, schiere Hybris der „Biophilia“-Pädagogik erscheint zu diesem Zeitpunkt beinahe schon normal.

Bei der zweiten Zugabe „Declare Independence“ ruft Björk zum Mitsingen auf, das „Higher! Higher!“ des tanzenden Frauenchors ist aber für sich allein schon mächtig genug.

Ein „bisschen langweilig“ sei das gewesen, behauptet ein Journalistenkollege erstaunlicherweise nachher, und ich verstricke mich in meiner Verteidigung dieses Abends, der mich gerade noch verblüfft sprachlos hinterlassen hatte, prompt in einen Strudel der Widersprüchlichkeiten.

Sicher, „Biophilia“ ist prätentiös bis dorthinaus. Aber wie nicht oft genug gesagt werden kann, ist genau das ja die Aufgabe von Pop – wenngleich das alles wie gesagt gar nicht mehr wirklich Pop ist, angefangen vom erwähnten, ungebrochen pädagogischen Aspekt, der tatsächlich gar nicht mit Pop zusammengeht, bis hin zur esoterischen Welterklärungsmystik... Nein, ganz verarbeitet hab ich das alles auch am Tag danach noch nicht.

Eine konzentriert durchgeführte, enorm ambitionierte Arbeit ist "Biophilia" aber auf jeden Fall.

Fest steht außerdem, dass in meinem Hotel die georgische Wasserballmannschaft haust und dass nebenan im Palace Theatre heute Abend Damon Albarn seine neue englische Oper „Dr Dee“ uraufführen wird.

Um sechs in der Früh geht mein Zug nach Hause. Ich werde berichten...

Björk-Spezial in der FM4 Homebase

Robert Rotifer hat nicht nur Björks Biophilia-Show schon gesehen, sondern die Isländerin auch zum Interview getroffen. Einen Ausblick auf das im September erscheinende Album Biophilia gibt es heute, Donnerstag, ab 19 Uhr in einem Björk-spezial in der FM4 Homebase.