Erstellt am: 5. 7. 2011 - 10:32 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (22)
marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 26. Juni
Bärengedenktag
■ An alle, die mir hinkünftig noch zu erzählen gedenken, dass sie immer um 22:22 auf die Uhr schauen:
Man sieht regelmäßig auf die Uhr. Da mag es alle paar Wochen vorkommen, dass man genau um 22:22 die Zeit wissen möchte. Ist eben auffälliger als 14:31. Hat aber NICHTS zu bedeuten!
■ Ein Zweizeiler mit Humanic:
Der Krebs, der wie ein Dummer fickt,
fragt einfach: „Sex?“, der Humanict.
Montag, 27. Juni
Siebenschläfertag
■ Mir fällt auf, dass ich gerade völlig gesund bin. Ein äußerst seltener Zustand. Mein Verdauungstrakt leistet meisterhafte Arbeit, meine Zähne schmerzen nicht, der Kopf vollbringt sein schwieriges Tagwerk ohne Beschwerden oder Leistungsschwankungen und meine Haut ist durchgehend unversehrt.
Nachdem körperliche Gebrechen in Wahrheit nicht das bevorzugte Thema der Senioren, sondern von Menschen unter dreißig sind, sollte man auch diesen Umstand als mahnenden Fingerzeit wider das Selbstmitleid nicht unerwähnt lassen.
■ Es ist bemerkenswert, dass das Besprühen von geparkten Fahrzeugen mit Slogans und Symbolen so selten Gegenstand von Vandalismus ist.
■ Herrn Hures werte Freundin empfiehlt mir ein Internet-Spiel: Zwei oder mehr Mitspieler müssen sich um die Wette von einem Wikipedia-Artikel zum anderen klicken, nur durch Verlinkungen. Zum Beispiel von "Mitochondrium" zu "Jazz Gitti".
Klingt gut. Steht ab Freitag auf der Agenda.
Dienstag, 28. Juni
■ Damen-Sonnenbrillen werden zusehends größer. Mittlerweile verdecken die sommerlichen Augengläser das halbe Gesicht, etwa von der Mitte der Stirn bis zum unteren Ende der Wangen.
Setzt sich dieser Trend fort, wird man schon nächstes Jahr Frauen mit Motorradhelm-ähnlichen Verdecken umherlaufen sehen, bei denen nur Nase und Mund ausgespart bleiben.
2013 ist dann der ganze Oberkörper von sonnenabweisendem Glas verhüllt, während die Dame von Welt 2014 Ganzkörperanzüge aus verdunkeltem Glas trägt. 2016 dürften Sonnenbrillen laut aktuellen Prognosen bis zu dreißig Quadratmeter Gesamtoberfläche haben.
■ Wie im Tagebuch bereits berichtet, ist Kollege L. gerade dabei, mit dem Fahrrad von Salzburg nach Salzburg zu fahren. Allerdings nicht auf dem direktesten Weg, sondern über Wien, Wroclaw, Kiew, Moskau, St. Petersburg, Helsinki, Stockholm, Kopenhagen und Hamburg. Alleine, nur mit Rad und Anhänger.
Lukas Pichelstorfer
Mittlerweile ist der bewunderte Kollege in St. Petersburg angekommen. Wider Erwarten wird er nicht langsamer, sondern kommt stetig schneller voran und fährt täglich über hundert Kilometer. Von der Etappe Moskau – St. Petersburg berichtet L. wie folgt:
“Seit ich in Russland unterwegs bin, habe ich jeden Tag Niederschlag. Meistens nur leichter Regen oder kurze Schauer. Das ist schon etwas nervig, vor allem beim Campen. Wenn ich das Zelt bei Regen auf- oder abbauen muss, wird es innen nass. Die Schlafplatzsuche wird auch immer schwieriger. Hier ist alles sumpfig und irgendwie Urwald. Oft ist es ueber hunderte km unmoeglich, den Wald auch nur zu betreten, von Zelten rede ich noch gar nicht. Fuehrt dann doch irgendwo ein kleiner Gatschweg in den Wald, so wird der von den Russen immer als Klo verwendet.“
Weiterhin alles Gute dem tapferen L.!
Mittwoch, 29. Juni
■ Kollege Wurm lädt zum Bowling. Am Empfang bekommen wir Schuhe und müssen die Namen der Mitspieler angeben. Anschließend wird uns eine Bahn zugeteilt. Die junge Dame schickt uns zur „Achter-Bahn“.
Bisher wird diese Erzählung bestenfalls durchschnittliche Erregung auslösen. Für den Rest der Anekdote empfehle ich nervenschwachen Lesern allerdings, auf einem stabilen Stuhl Platz zu nehmen, Beruhigungs-Pastillen zu lutschen und unter Umständen vor der Lektüre Rücksprache mit dem Hausarzt zu halten.
Achtung, letzte Warnung! Gleich kommt’s!
So.
Bereit?
Na gut.
Nur zur Erinnerung: Die freundliche Dame am Bowling-Empfang wies uns Bahn Nummer acht zu, und zwar mit den Worten. „Die Achter-Bahn!“
Darauf ich, gar nicht faul: „Nein, wir wollen zum Bowling, nicht zur Achterbahn!“
Selbst phantasiebegabte Leser werden sich nicht ausmalen können, welche ungeheure Erheiterung meine unvergleichliche Schlagfertigkeit auslöste. Der Betrieb der Bowling-Bahn musste für mehrere Stunden unterbrochen werden, weil die Mitarbeiter aufgrund hysterischen Brüllens am Boden rollend nicht mehr fähig waren, ihrer Pflicht nachzukommen.
Noch Jahre später wird man vom irrwitzigen Filou berichten, der einst durch seinen sprühenden Witz für offene Münder und schmerzende Ranzen sorgte.
Donnerstag, 30. Juni
■ In diesem Monat habe ich begriffen, dass ich in privaten Belangen kaum vom Internet abhängig bin. Alle wesentlichen sozialen Kontakte wurden einwandfrei gepflegt.
Eine berufliche Notwendigkeit will ich nicht abstreiten, in dieser Hinsicht war die partielle Benutzung aber dezidiert gestattet.
Die televisionäre Abstinenz war mir, wie zu erwarten, ziemlich wurscht. Dennoch freue ich mich ein bisschen auf Sonntage mit abgedunkeltem Zimmer im blauen Schimmer der Glotzkommode, um ein zurecht vergessenes TV-Synonym zu bemühen.
■ Das Ron Tyler Archiv präsentiert nicht ohne Stolz die jüngsten fünfzig Folgen als Playlist. Geballtes Wissen aus der Wikipedia der Internet-Generation!
Freitag, 1. Juli
■ Es war schon immer und bleibt unsympathisch, mit technischer Unbeflissenheit zu kokettieren. Was früher der Videorekorder war, den man „nicht einmal programmieren kann“, sind heute Facebook oder Smartphone. Es ist derartig einfach, ein Mobiltelefon der aktuellen Generation zu bedienen oder an einem sozialen Netzwerk teilzuhaben, dass man durch das Eingeständnis der Unfähigkeit zur Handhabung nur zugibt, vertrottelt zu sein.
■ Im Juli herrscht im Grunde Verzichts-Urlaub.
Die Mitglieder der "Neigungsgruppe Entsagung" verzichten lediglich auf Geld, und zwar jeweils auf ein Zehntel ihres monatlichen Gehalts. Dieses wird zusammen an eine wohltätige Organisation gespendet.
In den nächsten Tagen wird diesbezüglich die endgültige Wahl fallen.
Zu Recht merkt der kritische Leser nun an, dass im aktuellen Monat kaum über den aktuellen Verzicht berichtet werden kann. Nachdem ich dies auch sonst kaum mache und der Titel dieses Diariums höchstens einen roten Faden benennt und tatsächlich ein Vorwand ist: Drauf gepfiffen!
Samstag, 2. Juli
■ Ich würde mich nur notfalls im Beisein anderer schnäuzen. Dieser Vorgang sollte allgemein als ebenso intim gelten wie all jenes, was man sonst auf Toiletten macht.
■ Zum ersten Mal in der besorgniserregenden Entwicklung meiner Schreibtischoberfläche finde ich keinen Platz mehr für die Computermaus.
■ Bevor wir in die Daunen kippen,
setzen wir uns, um zu schreiben
und erkennen: Alles Tippen
ist nur der Versuch, zu bleiben.
Denn dann wäre es nicht tragisch,
morgen nicht mehr aufzuwachen:
Deshalb ist, was wir hier machen,
plump und doch mitunter magisch.