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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

29. 6. 2011 - 23:00

Journal 2011. Eintrag 126.

Alles eine Frage der Wiedererkennbarkeit der Agenda?

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem Eintrag, den ich einer Nachricht von Chri Morgenstern verdanke.

Herr Morgenstern, dessen Facebook-Vorname Chri ist (was für Christian aber auch Christoph stehen kann), lebt in einer australischen Großstadt, kümmert sich aber immer noch um Österreich, beschäftigungstechnisch. Und ich denke, das tut er nicht nur, weil er diese Woche auf Heimaturlaub ist.

Er hat mir einen Link geschickt, den ich weiterreichen möchte.
Der geht so: www.zeit.de/2011/25/Hegemonie

Allerdings ist er ohne Chris Anmerkung nur die Hälfte, nein, viel weniger, vielleicht nur ein Zehntel wert.

Er schreibt: "Lieber Martin. Ein Artikel der Zeit beschreibt, dass in Deutschland grüne Politik von Schwarz-Gelb gemacht wird und bürgerliche Themen auf der Strecke bleiben. Mein erster Gedanke dazu war, dass in Ö ähnliches passiert. Nämlich blaue Politik durch Rot-Schwarz; und klassische Sozialdemokratie sowie echte gute konservative Politik passiert nicht: Neues Fremdenrechtspaket, Wehrpflicht, absolute Inexistenz auf europäischer Ebene etc. Vielleicht interessiert es dich. Auf jeden Fall einen schönen Tag! ;)"

Geht es Schwarz-Gelb wie Rot-Schwarz?

Die wenig neuartige Tatsache, dass die FPÖ mit ihrer Anti-"Ausländer und Artfremde"-Politik schon seit den 90ern Regierungen und seit diesem Jahrhundert ganze Parteien nach Belieben vor sich hertreibt, ist ein beliebtes und auch richtiges Bild des öffentlichen Debatte.

Was davon hängen bleibt, ist allerdings nicht so sehr die genauere, bohrende Nachfrage, wohin dieser Dauerdruck, das frühe Pressing der großen Oppositionspartei führt, sondern bloß das Abtauchen in den Befindlichkeits-Kosmos der resignativen Depression, des katatonischen Stillstands.

Mir ist keine einzige halbwegs konkrete Analyse bekannt, in der die tatsächlich geleistete politische Arbeit (Gesetzwerdungen, europäische Beschlüsse, diplomatische Leistungen) abseits der reinen Stimmungslage auf diesen impliziten FP-Einfluss hin untersucht wurde.
Nicht in den Medien, nicht von den Parade-Intellektuellen in den Wochenend-Feuilletons, auch nicht als wissenschaftliches Uni-Projekt.

Dabei ist es, das zeigt die vorliegende Zeit-Geschichte gar nicht so schwer. Es erfordert nur einen einzigen, der normalen Herangehensweise zuzusetzenden Denkschritt (den, das stelle ich in den letzten Wochen verstärkt fest, kaum noch jemand zu leisten überhaupt willens ist) und eine gesettelte Ausgangs-These.

Wer regiert eigentlich und warum?

Die Zeit-Autoren Matthias Geis und Bernd Ulrich zitieren dazu Gramsci (meine Nummer 2) und seinen Hegemonie-Begriff: die Fähigkeit der Herrschenden ihre eigenen Interessen als die Interessen aller erscheinen zu lassen und den Beherrschten so den Eindruck zu vermitteln, als würden sie eh selber herrschen.

In Deutschland regiert eine schwarz-gelbe, also konservativ-neoliberale Regierung, die vor allem deswegen von einer Schwächephase in die nächste taumelt, weil sie sich von ihrer Ausgangs-Ideologie abgewandt hat: die FDP aus schierer Verzweiflung, weil ihr Modell in keiner Hinsicht praxistauglich ist; die CDU deshalb, weil sie den Boden des klassisch bürgerlichen Konservativismus verlassen hat - auch aus Mangel an Bürgertum. Wiewohl es das in Deutschland noch eher gibt als etwa in Österreich.

Als Massenpartei kann aktuell, sofern das Wohl der Bevölkerung ein bisserl was zählt, der Weg nur über eine sozial verträgliche und nachhaltige Politik führen. Mit deutlicher staatlicher Kontrolle über Energieversorger und anderen zentralistischen Maßnahmen, was wiederum die konservativen Publizisten im Dienst der Industrie/Wirtschafts-Lobbys schnell als Planwirtschaft an die Schattenwand werfen.

Da dies vor allem am sensationellen und unerwarteten Atomaustieg und dem grünen Sieg in Baden-Württemberg festgemacht wird, steht die kleinere Oppositionskraft plötzlich im Fokus.
Wahnsinn, schreien Welt und FAZ, die rechte Regierung macht grüne Politik! Verrat!

Die Grünen spielen frühes Pressing und regieren dadurch

Die Folgerichtigkeit der Regierungs-Maßnahmen ist kein Verrat, weil es ideologisch nichts zu verraten gibt: die FDP würde für ein bisschen Klientel ihre eigene Omma verkaufen, und die CDU kann sich nicht als alleinige Wirtschafts-Interessen-Partei definieren (auch wenn sie das im Kern, dem bezahlten, natürlich ist), auch weil ihre Programme mittlerweile schon diffus geworden sind.

Da die Grünen (auch wegen der inhaltlichen Abwesenheit der Sozialdemokratie) als einzige Gruppierung mit einer langfristigen und nachhaltigen Message dastehen (erneuerbare Energien forcieren, raus aus dem Atom und dem Öl) und diese Agenda seit Jahrzehnten stabil und konzis vertreten, sind sie die einzigen, die glaubwürdig sind.

Das wieder macht Druck auf die Regierung, frühes Pressing in der Hälfte des Gegners; und führt zu Eigentoren, die dann trotzdem gutgeschrieben werden.

Aktuell treiben tatsächlich die Grünen die anderen Parteien vor sich her.
Es ist denkbar, dass sie bei einer der nächsten Sonntagsfrage-Umfragen nach der SPD auch die CDU überholen.
Beides sorgt für eine völlig neue Situation.

Die FPÖ spielt hartes Pressing und regiert dadurch

Das Hoch der Grünen hat auch damit zu tun, dass sie durchaus ministrabel Figuren in der ersten und zweiten Reihe hat - nicht nur die Ex-Minister aus der Schröder-Zeit.

Und da ist der erste Unterschied zu Österreich.
Schon die kurze nur angerissene Schattenminister-Liste der FPÖ hat schon beim dritten Namen einen "Wer ist das bitte?"-Reflex ausgelöst.

Deswegen ist der Hegemonie-Effekt im Fall Österreichs auch so spooky.

Denn da wird das schlichte Beharren einer politischen Gruppierung, die aus dem nationalistischen, dritten Lager kommt, auf der Sündebock-Rolle der Anderen, Artfremden und Ausländer belohnt.
Das hat keinerlei Zukunfts-Perspektive (denn dafür müsste man sich mit globalem Miteinander beschäftigen, konstruktiv) oder Nachhaltigkeit (das Erfinden von Sündenböcken löst keine Probleme).

Trotzdem funktioniert es.

Weil die Frage der Agenda so stark ist

Weil die Wiedererkennbarkeit einer Haltung durchdringend ist.

Die Haider-FPÖ hat jahrelang heftig pro-EU getrommelt, aber dann erkannt, das das nix bringt, wählerstimmenmäßig - und sich dann auf die zentrale Agenda konzentriert: gegen die Anderen, die Ausländer, die Artfremden; also auch gegen die EU.

Dass dieses Pressing auf dem Umfragen/Imagesektor die große Koalition seit Jahren zu einer Fremden/Immigrations-/Integrationspolitik treibt, in jeder Beschreibung spottet, ist noch nachvollziehbar. Dass dadurch aber auch, um bei Chris kleiner Liste zu bleiben, jegliche vernünftige europäische Initiative unterlassen wird, also auch in Bereichen, in denen man sich selber durchaus positionieren und eine eigene Agenda setzen könnte, gröbste Unsinnigkeiten passieren, ist jedoch unerklärbar.
Ein unerzwungener Fehler.
Und die unerzwungenen Fehler sind es, die das Match entscheiden.