Erstellt am: 29. 6. 2011 - 12:25 Uhr
Exportware Bulgare
Bulgarien ist seit vier Jahren Mitglied der EU. In einer neuen Studie des Instituts für wirtschaftliche Studien der bulgarischen Akademie der Wissenschaften haben 200.000 bulgarische Staatsbürger bestätigt, dass sie in den nächsten Jahren planen auszuwandern. Wirtschaftliche und familiäre Gründe traten als Auswanderungsmotive im Vergleich zu früheren Migrationswellen in den Hintergrund. Mehr als die Hälfte der Befragten gab als Grund an: „Ich will einfach nicht mehr in Bulgarien leben“.
Mein Mitschüler Ivan arbeitet in einer großen Computerfirma in Sofia. Eigentlich hat er Kulturanthropologie studiert. Da der Arbeitsmarkt aber nicht unbedingt nach Anthropologen schreit, repariert er das Internet von irgendwelchen Amerikanern.
Jede Nacht wird Ivan zu Jason.
Die Kunden dürfen nicht erfahren, dass sich die Leute, die sich um das fehlerfreie Funktionieren ihrer Internetverbindung kümmern, in Osteuropa befinden. Sonst schenken sie ihrem Anbieter kein Vertrauen. Schließlich ist Ivan in vielen Hollywood-Filmen der Bösewicht. Es kann nicht sein, dass sich jetzt ein Ivan mit der Aufrechterhaltung des amerikanischen World Wide Web beschäftigt.
ainudil / flickr
Dass Ivan gezwungenermaßen zu Jason wird, stört ihn wenig, denn er wird für seine Arbeit überdurchschnittlich gut bezahlt. Sein Monatslohn beträgt 600 Euro für eine 40-Stunden-Woche – somit verdient er bei den Amerikanern 200 Euro mehr als ein Professor an einer bulgarischen Universität. Trotzdem will Ivan Bulgarien nächstes Jahr verlassen und sieht sich nach einer Stelle bei einer Computerfirma in Belgien um. „Ich habe es satt, hier zu leben“, erzählt mir Ivan. „Ich kann Sofia einfach nicht mehr ausstehen“.
Kein Bock mehr auf Sofia
Auch Maria plant bald, sich aus dem Staub zu machen. Maria arbeitet im Sofioter Kino. Das ehemals kommunistische Filmstudio wurde auch von einer US-amerikanischen Filmgesellschaft gekauft. Dort, wo früher Partisanen mit Nazis kämpften, brechen jetzt Dolf Lundgren und Steven Segal das Genick von arabischen Terroristen. Das Privileg, die arabischen Terroristen zu spielen, haben jetzt die früheren Partisanen: bulgarische Schauspieler. Maria ist die persönliche Assistentin ausländischer B-Movie-Stars. Sie begleitet Steven Segal bei seinen Rundfahrten in Sofia. Eigentlich kümmert Steven Segal wenig, dass er in Bulgarien ist. Maria sagt mir, dass sie sich nicht ganz sicher ist, ob Segal weiß, dass er jetzt in Sofia arabische Terroristen kaputtschlägt, um die Welt zu retten, oder tatsächlich glaubt, er sei in Pakistan. Maria hat keine Lust mehr, Segal und andere B-Movie-Superhelden zu betreuen. Sie plant nach Amerika auszureisen, um es im „echten“ Hollywood zu versuchen. „Ich habe keinen Bock mehr auf Sofia“, sagt Maria zu mir. „Ich habe es satt, die Dienerin von irgendwelchen Amerikanern in meinem eigenen Land zu sein.“
Bulgarien ist seit vier Jahren Mitglied der EU. Ich weiß nicht, was der Anteil meines Heimatlandes an der EU-Wirtschaft ist. Mir fällt kein Produkt ein, das Bulgarien produzieren und exportieren könnte. Außer Menschen. Jeder, der was in der Birne hat, will weg. Die jungen Menschen in Bulgarien haben vom Beitritt zur EU viel erwartet. Sie haben gedacht, dass sie jetzt die Zukunft ihres Landes selbst in die Hand nehmen könnten. Stattdessen blieb alles beim Alten. Die kleptokratische Elite ist die einzige, die bis jetzt vom EU-Beitritt profitiert hat. Irgenndwann kehren Ivan, Maria und ich zurück. Ich hoffe nicht als alte Leute.