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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

28. 6. 2011 - 13:16

Tagebuch zum Jahr des Verzichts (21)

Juni: Internet & TV

marc carnal

2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.

Sonntag, 19. Juni

■ Bezahlt man beim Wahrsager eigentlich eine Pendlerpauschale?

■ Maupassant – „Bel-Ami“: Ganz großes Tennis. Beschreibt den raschen Aufstieg eines kleinen Angestellten zum gerühmten Journalisten und ist, obwohl vor hundertfünfzehn Jahren verfasst, nach wie vor eine brillante Analyse der Niedertracht der Presse.

■ Offizielle Entschuldigung bei Kollegen Futtinger: Im Tagebuch der letzten Woche bezichtigte ich den geschätzen Weggefährten der "Gschichtldruckerei". Seine Erzählung über den Hammermörder war selbstverständlich korrekt wiedergegeben, wie er im betreffenden Forum glaubhaft beweisen konnte. Er hat auch nie von einem Flaschenmörder gesprochen, wie ich irrtümlich behauptet habe.
Zu nächtlicher Stunde werden eben zuerst die Katzen schwarz und dann reden unzählige Schluckspechte irgendwas daher und am nächsten Tag weiß man nicht mehr, wo vorne und hinten ist.

Montag, 20. Juni

marc carnal

■ Taxilenker Amir beherrscht nicht nur das Autofahren meisterhaft, sondern auch sonst fast alles.

■ Ich war in den letzen Wochen nicht ein einziges Mal versucht, fernzusehen. Außenstehende vermuten tendenziell, dass der Verzicht auf Television eine härtere Nuss darstellt als jener auf das Internet.

Dabei sehe ich auch sonst kaum fern. Ich gehöre nicht zu jenen, die es als Statement gegen „den ganzen Müll, der da läuft“ missverstehen, einen Alltag ohne Fernsehen zu meistern. Ich besitze nach wie vor ein Gerät, dessen Bedienung allerdings Routine und Geduld erfordert. Bei Sportübertragungen erfreue ich mich an ihm. Vor ungefähr zwei Jahren begann mich das sonstige Programm mehr und mehr zu langweilen, seitdem sitze ich vorwiegend am Sofa, um auf das Fenster zu starren. Nicht aus dem, sondern auf das. Es ist sehr schmutzig.

Eine Abhängigkeit vom Internet will ich dagegen nicht allzu vehement leugnen.

■ Der höfliche Rapper aus gutem Hause schreitet zum Battle (Auszug):

Mein Herr, ich möchte Sie höflich darauf hinweisen, dass ich über erheblich mehr Geldmittel verfüge als Sie. Des Weiteren muss ich betonen, dass die Anzahl der Damen, mit denen ich nicht nur platonische, sondern durchaus amouröse Verhältnisse pflege, beträchtlich ist, was man von Ihnen, mit Verlaub, nicht behaupten kann. Ein Grund mag sein, dass mein Gemächt das Ihre in puncto Pracht und Umfang nicht nur knapp, sondern eindeutig übertrumpft. Zusätzlich zu meiner biologisch vorteilhaften Situation beherrsche ich diverse Spielarten der körperlichen Zuneigung auf so meisterhafte Art und Weise, dass ich ein permanentes Überangebot an interessierten jungen Damen genießen darf, was ich mir bei Ihnen gelinde gesagt nicht vorstellen kann. Zu guter Letzt möchte ich betonen, dass meine Kenntnisse und Fähigkeiten im spontanen Sprechgesang die Ihren entschieden übertreffen. Aus den genannten Gründen möchte ich Sie bitten, meine Kritik zur Kenntnis zu nehmen und die Tatsache zu akzeptieren, dass es sich hierbei um meine Straße handelt und Sie weniger mit rechtlichen denn mit körperlichen Konsequenzen zu rechnen haben, wenn Sie nicht alsbald Vernunft walten lassen und sich zurückziehen.

Dienstag, 21. Juni

Internationaler Tag der selbstgemachten Musik, Tag des Schlafes und Nationalfeiertag von Grönland - Am besten im Bett die Nationalhymne von Grönland auf der Blockflöte spielen

■ Der uninspirierte Lokalbesitzer greift bei der Namensfindung für seine Spelunke gerne auf Wortspiele wie "Wunder-Bar" zurück. Die Strandbar Herrmann ist nach Emanuel Herrmann benannt, man könnte ohne dieses Hintergrundwissen aber auch annehmen, der Schriftsteller Hermann Bahr wäre der Namensgeber, was der Strandbar immerhin den ersten Platz in der Bar-Wortwitz-Hitparade gesichert hätte.

■ Aus den „Schwabinger Tagebüchern“ von Walter Rufer, die wohl umfangärmsten ihrer Gattung:

8. April
Schrieb eines Gedichtes erste Zeile
nach dem Motto: Gut Ding braucht Weile.

9. April
Nach dem selben Motto
soff ich heut’ mit Otto.

1. Jänner
Katerkatarrh.

2. Jänner
Siehe vor 5 Jahren.

Mittwoch, 22. Juni

■ Wollen Frauen in ihren Fünfzigern unterstreichen, dass sie ein Beispiel für gelungene plastische Chirurgie sind, erzählen sie gerne, dass ihnen "die Bauarbeiter nachpfeifen", wenn sie an Baustellen vorbeigehen.

Ich habe in meinem Leben schon vieles, ich möchte fast sagen: alles gesehen, aber bisher noch keine Bauarbeiter, die lecker lecker vorbeigehenden Damen nachpfeifen. Vielmehr habe ich schon unzählige Vertreter dieser ehrbaren Zunft dabei beobachten dürfen, wie sie gewissenhaft graben, betonieren, mauern und schleppen und dabei vor lauter Arbeitseifer die gelifteten Frauen am Wegesrand gar nicht bemerken.

marc carnal

■ Der Klappentext des Ratgebers "Wer nicht hören will, muss fühlen", der deutsche Männer über das Wesen heiratswilliger thailändischer Frauen aufklären möchte.

Donnerstag, 23. Juni

■ Die Begriffe Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen werden durch die Bank falsch verwendet bzw. verwechselt.

Zum Mitschreiben: Selbstbewusstsein hat der Mensch grundsätzlich, er ist sich seiner selbst bewusst, also zur Selbstreflexion (präziser: Selbsterkenntnis) fähig. Um einem Schuft den Marsch zu blasen, braucht man also nicht nur Selbstbewusstsein. Für resolutes Auftreten bedarf es vielmehr Selbstvertrauen, -wertgefühl und –achtung. Man kann also keine „wahnsinnig selbstbewusste Frau“ sein, denn das Selbstbewusstsein ist eine Entweder-Oder-Chose.

■ Öffentliches Geständnis:
Ich bin verliebt in die junge Daliah Lavi.
Nicht erst seit heute. Und ich werde es immer sein. Und ich mag auch ihre Musik.
Es gab einst bezaubernd getextete und von Meisterhand arrangierte Schlager, als dieser Begriff noch kein Grauen verhieß.

■ Das Internet zu meiden bedeutet einen täglichen Zeitgewinn von rund eineinhalb Stunden. Ohne das Gefühl, etwas Wesentliches verpasst zu haben.

marc carnal

■ Blöde Sache: Am Pissoir einhändig diesen Hinweis fotografieren wollen und dabei erst recht daneben machen.

Freitag, 24. Juni

■ Nachdem meine Hauptinformationsquelle für tagesaktuelle Ereignisse in den Bereichen Politik, Kultur und Sport an sich das Internet ist, muss ich derzeit ausweichen. Ich habe allerdings keine Tageszeitung abonniert, sondern höre nach Möglichkeit durchgehend Ö1.
Dadurch bin ich zwar umfassend informiert, freue mich nach Sondersendungen über Blechblasinstrumente des 17. Jahrhunderts in Es-Dur oder flämische Versmaße nun aber doch wieder auf die Segnungen des Internets.

■ Die überschätzte Zeitschrift NEON interviewt acht Paare unmittelbar nach dem Sex. Eine Probandin: "Es ist ja ein alter Mythos, dass Frauen durch reine Penetration zum Orgasmus kommen."

Liebe Probandin, es ist aber auch ein alter Teenager-Mythos, dass es gar keine Frauen gibt, die durch reine Penetration zum Orgasmus kommen.

■ Wenn junge Menschen im Rahmen eines Ungeschicks hinfallen, sagt man umgangssprachlich, es hätte sie geschmissen.
Das Ausgleiten von Senioren erkennt man sprachlich daran, dass man stets berichtet, sie wären gestürzt.

Ein weiterer Unterschied zwischen jungem und altem Fallen ist, dass der Adoleszent sich aufschürft, während sich der Betagte verlässlich einen Oberschenkelhalsbruch zuzieht.

Samstag, 25. Juni

marc carnal

■ Noch ein Toiletten-Hinweis, der durch zwei Wortwiederholungen auf engstem Raum besticht.

■ Literarische Entdeckung: E.L. Doctorow.
Stilistisch stramm, tadellos und gefühlvoll, inhaltlich originell und charmant. In der Story „Walter John Harmon“ vereint er elegant alle Wesenszüge von Religiosität und Spiritualität. Vier Kurzgeschichten später weiß ich, dass ich in den kommenden Wochen ein großes Oeuvre nachzuholen habe.

Wenn mich ein Autor mit den ersten zehn Seiten überzeugt und die nächsten hundert den ersten Eindruck bestätigt, hat er seinen Stammplatz unter meinen literarischen Hausgöttern schon fast sicher und zwingt mich, ausnahmslos alles von ihm zu lesen. Das hat mich bei einigen Schriftstellern schon viel Zeit und Geld gekostet und war es fast immer wert.

■ Top 5 der TV-Sendungen, die ich noch am ehesten vermisse:

1. Barbara Karlich
2. Kunst & Krempel
3. 4 für Sie
4. Zimmer Frei
5. Tatort

■ Die Mär von den Vorarlbergern, die sich eher der Schweiz denn Österreich zugehörig fühlen, stammt von unbelehrbaren Urahnen und lässt sich empirisch widerlegen, indem man vergeblich versucht, junge Vorarlberger mit eidgenössischen Ambitionen zu finden.