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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

23. 6. 2011 - 21:43

Fußball-Journal '11-60.

Und immer wieder die Schweiz: Der Nachbar als bestmögliches Vorbild für die heimische Trau-mi-no-ned-Szene.

Bundesliga, Meisterschaft und der Cup, der ÖFB und das Nationalteam, das europäische Geschäft, der Nachwuchs und die vielen Irrsinnigkeiten im Umfeld: Das Fußball-Journal '11 begleitet nach dem Jahr 2010 auch 2011 wieder ungeschönt und ohne Rücksichtnahme auf Skandalisierungen und Stillhalte-Abkommen, die den heimischen Fußball-Journalismus so mutlos daherkommen lassen.

Heute mit einer ausführlicheren Vorstellung des Schweizer Nachwuchs-Konzepts, das gestern zu einem U21-EM-Finale für unsere Nachbarn geführt hat - die dem österreichischen Fußball aktuell 15 Jahre voraus sind; und wenn der hiesige Reformweg weiter so zögerlich und vorsichtig voranschreitet, werden das morgen schon 20 und übermorgen 25 Jahre sein.

Um gleich an gestern anzuschließen: die Sieger der U21-EM-Halbfinals spielen prototypischen "linken" Fußball.

Spanien sowieso, die liefen im Barcelona-Stil auf, exakte Kopie, 4-3-3, und hatten bis tief in die Schlussphase die Geduld auf den Ausgleich zu warten, den sie - aufgrund des ausgeübten Drucks, des positiven, fast schon fröhlichen Spielansatzes - verdient hatten. In der Verlängerung klatschten sie dann ihren Gegner, die völlig destruktiven, weit hinter den Mittellinie wartenden Weißrussen an die sprichwörtliche Wand. So wie es die Großen auch tun - und dabei in den letzten Jahren eine Sieges-Serie hinlegten, die nur zweimal unterbrochen wurde.

Spaniens Junioren-Equipen standen in den letzten 10, 15 Jahren im übrigen in allen Finals der großen Nachwuchs-Turniere, egal ob U20- oder U17-WM, oder U21-, U19- oder U17-EM.

Das andere Final-Team der heurigen U21-EM kommt aus der Schweiz. Auch kein Zufall. 2002 war man schon einmal U17-Europameister. Und 2009 gar U17-Weltmeister.
Diese Jahrgangsteams werden von ihren Verbänden in erster Linie aufgebaut, um sie für die jeweiligen A-Teams fitzumachen - Titel und Erfolge sind eher Nebenbei-Produkte.

Die Schweiz im Konzert der Großen

Aber die Korrelation zwischen Nationen, die erfolgreiche Nachwuchs-Arbeit betreiben, Nationen, deren A-Teams zu den "Großen" gehören und Nationen, die im Junioren-Bereich Titel einstreifen, ist enorm hoch.
Alles eben kein Zufall.

Die aktuelle Schweizer U21-Nati (und die Schweizer nennen ihre Nationalmannschaften Nati, und das spricht sich Nazi aus, und die vielen Experten, die so tun, als ob sie was wüssten und dann erst recht Nati mit T sagen, lassen sich anhand dieses Details leicht als Trottel entlarven), die am Samstag gegen Spanien das Finale spielt, und die 2012 auch nach London zu Olympia fahren darf, ist - wieder einmal - ein Produkt des besten Nachwuchs-Konzepts eines kleinen Verbandes.

Und da sollte unsereiner aufhorchen.
Denn, klar: mit den Möglichkeiten, die die Großen, die Frankreichs, Hollands, Spaniens, Deutschlands, die Argentiniens und Brasiliens, aber auch die Nigerias und Ghanas haben, kann Österreich nicht mithalten. Diese Verbände sind, was Know-How, finanzielle Unterstützung, fußballerische Tradition und die Unerschöpflichkeit der Talente-Pools betrifft, ganz woanders.

Die Schweiz hingegen, die ist vergleichbar: Größe und Einwohneranzahl sind etwa gleich, schwierige geopolitische Umstände oder länderorientierte Aufsplitterung gibt es auf beiden Seiten des Rheins.

Das Nachwuchs-Konzept von 95 geht jetzt auf

Die Schweiz ist nun allerdings deswegen seit Anfang/Mitte der 90er auf dem Vormarsch, sowohl mit der Nati der Großen als auch mit den Juniorenteams, und durchaus auch mit den Vereinen, was internationale Reputation betrifft.

Wenn der West-Nachbar von Fußball spricht, dann meint er die Gegenwart; nicht wie in Österreich eine scheingloriose Vergangenheit.

Eine der Bedingungen, unter den Roy Hodgson 1992 dem Schweizer Verband als Teamchef zusagte, war, dass ein einheitliches, detailliertes und praktisch handhabbares Nachwuchs-Konzept entwickelt werden müsse.
Als Hodgson (der die Schweiz bei der WM 94 ins Achtelfinale brachte und sie als Gruppensieger für die EM 96 qualifizierte) Ende 95 ging, wurde das Projekt auf Schiene gesetzt. Von Hansruedi Hasler, der bis 2009 als Technischer Direktor des Schweizerischen Fussballverbands für die Nachwuchs-Arbeit zuständig war.

Diesen Montag brachte die Sportlounge des Schweizer Fernsehens eine dezente Reportage, die die Geschichte dieses Projekts ausrollte und sich auch analytisch bemühte.

System durchziehen, Jahrgänge respektieren

Das Zentrum dieses Projekts ist ein recht simpler Satz, der die fußballerische Philosophie zusammenfasst: man wolle einen offensiven, dynamischen, zonenorientierten Fußball spielen.
Begriffe, die in Österreich heute noch fremdartig und wild klingen - und von Andi Ogris nicht auszusprechen wären, damals aber auch in der Schweiz Synonym für ein riskantes Unterfangen waren. Dem wird alles untergeordnet, dem wird aber auch ein System zugeordnet - das klassische flache 4-4-2, in dessen Rahmen die Schweizer seit eben nun über 15 Jahren bereits zentrale Mittelfeldspieler ausbilden, die mehr können, als der klassische Sechser alten Stils konnte.

Ein System, das von der U15 aufwärts durchgezogen wird. Genauso wie die Jahrgänge nicht (wie in den letzten Jahren in Österreich) willkürlich, je nach Gusto einzelner Coaches, die dieses Spieler-Mixing als Machtfrage missbrauchen, vermischt, sondern als maßgeblich beachtet werden.

Im übrigen ist das Spielsystem bis zu einem gewissen Grad flexibel interpretierbar: die aktuelle U21 spielt auch eine Art 4-3-3 im Stil Barcelonas, kann aber - gelernt ist gelernt - auch auf ein 4-4-2 oder ein 4-2-3-1 zurückswitchen.

Intensive Kommunikation, Bemühung um Integration

Zweiter wichtiger Faktor in diesem System ist der Wert, der auf die Kommunikation mit den jungen Teamspielern gelegt wird: da werden keine Pseudo-Motivations-Ansprachen in einen Pulk gebellt, da geht es um Einzelgespräche, um intensive, die nicht nur sportliche, sondern auch menschliche Lernfortschritte auf der Checklist haben.

Der SFV hat zb auch einen eigenen Goalie-Verantwortlichen, der für die Aus- und Fortbildung der Torwarttrainer zuständig ist. Der ÖFB hat den Agentur-Chef und Nebenbei-Trainer Franz Wohlfahrt.

Dazu verfügt der Verband über einen Mann, der extra für die Kommunikation mit den Spielern mit zwei Nationalitäten, wie die Secondos in der internen SFV-Sprache heißen, zuständig ist.

Da bemüht sich ein Koordinator hauptamtlich um den reibungslosen Ablauf der Integration, ist Ansprechpartner für alle Probleme, die überhaupt auftreten können. Peinlichkeiten wie das jüngste Versagen des ÖFB in punkto Integration und die daraus folgende über die Medien clever gespielte Schuldzuweisung an die Tschuschen-Buben, können so erst gar nicht entstehen.

In anderen Bereichen, wie etwa in den Nachwuchs-Bildungsstätten der größeren Vereine, hat der österreichische Standard mittlerweile den der Schweiz erreicht - wie aus dem Interview mit Ralf Muhr im Rahmen der laola1.at-Taktikserie recht deutlich wird.

Investieren in den Nachwuchs und seine Ausbildung

Auch dass, wie international und eben auch in der Schweiz längst üblich - im Jugend/Nachwuchs-Trainer-Bereich so sinnvoll Geld investiert wird, dass nicht irgendwelche dem Trunk nicht abgeneigten Ex-Liga-Kicker dort die Jungen verderben oder gar brechen - wie das im letzten Jahrhundert Usus war, und mancherorten immer noch als normal angesehen wird.

Bloß: die Schweizer machen das seit Jahren so, hierzulande handelt es sich um die erste Generation, die sich um Taktik, Sportwissenschaft, Psychologie etc. wirklich kümmert - wie aus den Zwischentönen des Interviews mit Andi Herzog herauszuhören ist, der sich - wie viele andere seiner Generation nicht so recht traut die in der Vergangenheit geschehenen Versäumnisse und vor allem deren Verschleppung durch die Cordoba- und die Post-Cordoba-Generation angerichteten sportlichen Verheerung anzusprechen.

Das ist zwar erklär- und nachvollziehbar bleibt aber eine Wasch-mir-den-Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass-Strategie der strukturellen Feigheit.
Zu viel bleibt immer noch unausgesprochen, zuviel wird immer noch schöngeredet.

Die "neuen" Coaches sprechen mit gespaltener Zunge

Solange sich Neo-Coaches wie Peter Stöger öffentlich als Kopie der alten "Gehts-ausse-und-schpüts-eucha-Schpü!"-Garde geben, um so vor den stockreaktionären Medien und strukturkonservativen Fans lässig dazustehen, während sie im Hintergrund eh das Gegenteil machen, solange wird sich substanziell nichts ändern. Und solange sich die alte Garde im Abwehrkampf hinter missverständlichen oder ernstgemeinten "Mir-ham-des-aa-ned-braucht!"-Sprüchen verschanzt, kann keine neue Ära beginnen.

In der Schweiz hat man diese Phase längst überwunden. Dort hat das 95 begonnene Nachwuchs-Projekt das 21. Jahrhundert zu dessen Beginn betreten.
Österreich braucht genau so eine Reform, eine alles durchdringende und kooptierte Nachwuchs-Strategie, um das, wohl eh schon 15 Jahre zu spät, endlich auch zu schaffen.
Eine U20-Schwalbe macht nämlich noch keinen Sommer - die Schweiz zeigt vor, wie es geht.