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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

23. 6. 2011 - 15:17

Past Suburbia

Arcade Fire zelebrierten in Wiesen. Und lösten unausgesprochene Versprechen ein.

Mit achtzehn reist Win Butler zum ersten Mal nach Europa und landet in Wien. Sieht ein Plakat von Wiesen, das Pulp und The Cure ankündigt. Und fährt Auto stoppend nach Wiesen, erzählt er nach dem zweiten Lied - keep the car running - seinem Publikum und steht auf und nicht vor derselben Bühne wie 1999. Gut fünfzig Kilometer wären sie damals in die falsche Richtung gefahren. Mir ist das gestern Nacht passiert, zum Glück nach Arcade Fire. Gestern haben Arcade Fire in Wiesen gespielt, nein, ein Konzert zelebriert.

Win Butler singt

Nikolaus Ostermann

Regine Chassagne spielt Drehleier

Nikolaus Ostermann

Auf beiden Seiten des Atlantik toppt ihr aktuelles, drittes Album "The Suburbs" dieses Jahr die Charts, wird bei den Grammy Awards im Februar zum "Album of the Year" gekürt und viele fragen sich: Wer in der Welt sind diese Arcade Fire? Seit die Wilden Kerle zu ihrer Musik unter der Regie von Spike Jonze durch geheimnisvolle Wälder tollten und die Fachpresse "The Suburbs" zerpflückte wie die wilden Kreaturen Bäume, ist die Band mit Schaltzentrale Montréal groß. Und beliebt auch bei FreundInnen, die nicht die selbstbetitelte EP kennen oder vom Grafikdesigner Vincent Morisset gehört haben, der kürzlich in Barcelona beim OFFF Festival von seiner Zusammenarbeit mit der Band berichtete.

Rund um Arcade Fire gibt es dutzende Geschichten zu erzählen. Von Pullovern mit Tiermotiven und einnehmendem Charisma. Aber nun geht es los: "A preview of coming attractions" liest man auf der Leinwand. Bis die Band auf die Bühne kommt, sieht man alles doppelt und vielfach: zwei Schlagzeuge, kleine Piano/Synthesizertürme. Zähle die Mikrofonständer oder merke dir deine Nachbarn. Zum Schluss stehen sie nach wie vor bewegt neben dir.
Die Impressionisten hätten ihre Freude gehabt, in einem See spiegelt sich die Welt ringsum auf der Leinwand, bis Wasser in Himmel übergeht. Ready to start. Regine Chassagne spielt die vielle à roue, eine Drehleier, das Instrumentarium studiert man ein anderes Mal. Denn die Visuals sind schöne Videoarbeiten, jedes für sich ein abgeschlossenes kleines Werk, das sich mit der Band und Überblendungen von Live-Cam-Bildern in ein stimmiges Ganzes fügt. Mit der Musik konkurrieren die bewegten Bilder nicht, viel mehr sind sie kongruent. Banal will ich nicht gesagt haben. Alles in allem wunderbar.

Arcade Fire auf der Bühne vor Video-Leinwand

Nikolaus Ostermann

Ein Euro jeder Eintrittskarte geht an die Hilfsorganisation "Partners in Health". Das haben sich Arcade Fire schon vor Jahren ausgedacht und beibehalten. Dankeschön.

Zu No cars go blickt man in Frauengesichter, die bis in die Stirn kopfbetucht sind. Regine Chassagne zieht nun einen Schrank von Akkordeon, der fast halb so hoch wirkt wie sie, und die muslimischen Frauen auf der Leinwand öffnen ihre Münder. Die Assoziation Iran, nein, weiter, nach Saudi-Arabien drängt sich nicht auf, sie stellt sich augenblicklich ein. Darauf biegen sich Palmkronen im Wind, Chassagne tanzt und singt Haiti. Die Kunst von Arcade Fire besteht auch darin, bei aller Präzision das Abstrakte hochleben zu lassen. Es ist schon schön, es geht nach Suburbia. Es wird noch superb. Win Butler spielt singend das Stage-Piano, ein bisschen steht er so auf einer Kanzel und zwischendrin muss ich ein Wort denken: sakrosankt. In "Scenes from the Suburbs" von Spike Jonze, das parallel läuft, ringen heranwachsende Buben einen Freund zu Boden. Im Klammergriff vom Einen fixiert, gibt ihm ein Anderer ein Bussi auf den Kopf. I'm moving past the feeling, again.

Arcade Fire live in Wiesen

Nikolaus Ostermann

Arcade Fire zelebrieren Musik in Wiesen

Nikolaus Ostermann

Geigerin

Nikolaus Ostermann

Herzlicher Dank an Niko Ostermann für alle Bilder!

Schlachtrufe gleich Walgesängen

Bei Rococo höre ich einen seltsamen Vogel singen, der aus tausenden Kehlen ruukuuukuuut. Angeblich 7000 oder 8000 Menschen stehen gerade nebeneinander. Unter dem Planendach im Bühnenbereich kein unangenehmes Stadionrockgefühl, in keinem Moment, und weiter oben am Wiesenhang, wenige Meter vor dem Wald auch nicht. Das ist nicht allein der Location zu verdanken, die viel öfter genützt werden sollte.

Arcade Fire setzen Vocals ein wie ein Instrument, wie von selbst kommt das Publikum in dieselbe Schwingung. Du bist in derselben Frequenz und wirst unbewusst Teil der Band. Weit mehr, als das bei anderen Konzerten der Fall ist, sagt Mario Rampitsch zu mir. Das macht die Chemie. Und die Energie greift um sich, die die acht MusikerInnen mit Leib und Seele aufbauen und entfalten. Auf ruhige, melancholisch dichte Momente setzt es eins: die Aufgeladenheit wird losgelassen und hebt einen empor. Pure Euphorie durchdringt einen. Month of May sprüht, die "uuuh"-Gesänge verdichten sich, so sehr jede und jeder auf der Bühne das jeweilige Instrument bearbeitet: synchrone Luftsprünge gehen sich aus. In ihren eigenen Refrains überholen sich die Stimmen wie in einem Kanon. Die Neighborhoods werden leicht variiert, das gefällt noch mehr.

Win Butler beim Konzert in Wiesen

Nikolaus Ostermann

Die starke Präsenz Win Butlers verteilt sich. Als er vom Schlaf singt, der den Modern Man nicht übermannen will, die Abwesenheit von tiefer Erholung feststellt, wirkt er noch wie ein Offizier im Arbeitshemd, das Haar beiderseits geschoren. Doch mittig ein langer Schopf, und rekrutieren müssen Arcade Fire hier niemanden mehr.

Régine Chassagne

Nikolaus Ostermann

Für Intervention als erste Zugabe bin ich geradezu dankbar. Orchestral, das ist Arcade Fire. Aber sie eifern nicht. Interpretiere jede/r, was er/sie möchte. Für mich sind die Zeilen eine Abrechnung mit schicksalsgläubiger Haltungslosigkeit und Gefolgsamkeit. Glöckchen klingen, manche Schulden wird man nie begleichen können, und die Erkenntnis mündet in einen überschwänglichen Weckruf. Wohin mit all der Euphorie und Energie? Wie nun weiter? Régine Chassagne dreht Pirouetten, holt die Mission zurück in die kleinen Häuser der Vorstädte, zurück an den Esstisch und zu drängenden Fragen zur eigenen Zukunft. "They heard me singing and they told me to stop. Quit these pretentious things and just punch the clock." Zwei Mal geht das Licht auf ihren gesungenen Wunsch hin aus, dann bleibt die Bühne im Dunkeln.

Haben Arcade Fire acht Duschen backstage oder im Tourbus? Oder müssen sie warten und sich die Reihenfolge ausmachen? Und wie liegt dein Rekord im nächtlichen Zeltaufbau?

Zurück in die Sehnsucht

Es hat geschneit auf der Leinwand und es war tropisch warm. Das nächtliche Burgenland ist vom Auto aus betrachtet ein einziges großes Suburbia. Headlights look like diamonds, Nachbarschaften und Kindheiten, Nähe und Fernsein, das sind auch die immerwährenden Themen von The Weakerthans aus dem kanadischen Winnipeg. Und sie haben schließlich den gestrigen Konzertabend eröffnet. Überraschend, doch geschickt von der Dramaturgie, mit José Gonzalez ein sanftes Kissen zwischen die kanadischen Einheiten zu schieben.

José Gonzalez spielt Gitarre in Wiesen

Nikolaus Ostermann

Alleine auf der Bühne: José Gonzalez. Und die Fans auf Toilettenpause: 'Kennst das Liadl? - Jo! Das isses!"
The Weakerthans-Sänger in Wiesen

Nikolaus Ostermann

Alte Bekannte: John K. Samson und seine The Weakerthans eröffneten.

Die Indie-Rocker The Weakerthans um John K. Samson schrieben vertonte Kurzgeschichten. Noch bevor eine Zeile beginnt, könnten die pünktlichen KonzertbesucherInnen jedes Wort singen. Sie tun es auch. Denn The Weakerthans besinnen sich auf ihre besten Alben. "Reconstruction Site" bildet den Kern des Konzerts. Es ist, als ob man jemandem über den Weg läuft, mit dem man einmal alles geteilt hat. Man schaut sich das an, freut sich herzlich und weiß, dass man gut alleine um die nächste Ecke biegen kann. Den Weakerthans fehlen nicht die new words for old desires, sie sind nach wie vor eine gute Band für LinguistInnen und GermanistInnen. Doch musikalisch ist der Wille zur Wiederholung seitens der ZuhörerInnen endenwollend. Aber vielleicht sollte man das aus alter Gewohnheit gekaufte, letzte Studioalbum "Reunion Tour" noch einmal anhören?

Zuvor aber schnell wieder in "The Suburbs"!