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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

21. 6. 2011 - 21:38

Journal 2011. Eintrag 121.

Die Imhofsche Wahrnehmungsverschiebung. Oder: zur scheinmoralischen Eigenlogik des Mediensystems.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit der bereits zweiten Begegnung mit dem Schweizer Professor Kurt Imhof innert (um da gleich ein schweizerisches Wort zu verwenden) Jahresfrist. Anläßlich der ersten haben wir seine These zum Übel der Empörungsbewirtschaftung kennengelernt. War er damals Gast in der ORF-Public Value-Zeitschrift wurde er jetzt von der Medienregulierungs-Behörde RTR zu einem Vortrag eingeladen.

Den Schweizer Soziologen und Medienprofessor Kurt Imhof habe ich an dieser Stelle im letzten November erstmals (und seither immer wieder referenzartig) zitiert.
Der von ihm eingeführte Begriff Empörungsbewirtschaftung bringt nämlich das erfolgreich demokratiebeschädigende Triplespiel zwischen Politik, Medienmacht und Publikum am besten auf den Punkt.

Zur 10-Jahres-Feier der Medienregulierungs-Behörde RTR (die sind für Lizenzvergabe und Monitoring zuständig) hat Imhof nun eine ausführliche und sicher die meisten überfordernde Powerpoint-Präsentation mitgebracht, die aber zu viel Elementares anspricht und zu sehr der aktuell beste Reality Check ist, um sie einfach in einem Link mit dem Hinweis "Schaut‘s euch das einmal an" vergammeln zu lassen.

Weshalb ich in der Folge die zentralen Imhof-Punkte rauspicken und in einer dezent kommentierten Version präsentieren möchte.

Imhofs zentrale These ist dass sich die Wahrnehmungen massiv verschoben haben - aufgrund eines Strukturwandels dessen, was man Öffentlichkeit nennt, also dem Kräftespiel zwischen Medien, Interessensvertretern, Bürgern und deren politischen Repräsentanten.

Fünf zentrale Effekte des Strukturwandels der Öffentlichkeit

Es gibt zwei Traditionen der Öffentlichkeits-Kritik: sie richtet sich entweder gegen zu starke Privatisierung oder gegen die Überformung durch den Staat. Gegenteilige Behauptungen, wie so oft.

Seit einigen Jahren findet ein Strukturwandel der Öffentlichkeit statt. Zum einen durch die Entgrenzung, Teilentmachtung des Nationalstaats durch Politik und vor allem Ökonomie.
Und zum anderen durch das, was Imhof "Ausdifferenzierung eines eigenlogischen Mediensystems" nennt - dazu später mehr.

Die fünf von Imhof festgestellten Effekte sind:

1. Entdifferenzierung.
Die klassischen Ressorts samt Spezialwissen werden abgebaut; die immer selben Inhalte werden über eine Vielzahl Kanäle rausgeblasen, Einzel-Redaktionen in News-Rooms gezwungen, Korrespondentennetze ausgedünnt, die Abhängigkeit von wenigen Agenturen gesteigert.

Imhof gibt dem hektischen und gedankenfreien Copy-Paste-"Journalismus" damit einen wissenschaftlichen Namen, danke!

2. Entprofessionalisierung
Der neue Allround- und Multikanal-Journalismus und die neue Macht der PR-Branche führen zu einer Schwächung des Berufsbildes und des Standes, zum Vertrauensverlust und automatisch zu ->

3. Episodischer Journalismus mit moralisch-emotionaler Aufladung.
Konflikt-Stilisierung und Skandalisierung; Personalisierung und Privatisierung von Strukturproblemen; die Expansion von Human Interest.
Die zentrale Aufgabe - die journalistische Einordnung - tritt in den Hintergrund. Der 'Skandal' steht gleichwertig neben der analytischen Meldung.

4. Verabredung von Medienpopulismus und politischem Populismus.
Die Empörungsbewirtschaftung prägt beide Systeme; also verabredet man sich zu empörungsträchtigen Events und Campaigns, die beiden Systemen gleichermaßen Aufmerksamkeit bringen.
Das führt zu einem Rationalitätsverlust in der demokratischen Auseinandersetzung zugunsten einer emotionalen Urteilsbildung

5. Schichtung und Segmentierung.
Durch den neuen Umgang und die Human Interest-Thematik schaffen die Medien bewusst Zielgruppen-Ghettos "auf der Basis von Bildungsabschlüssen, Herkunft und Generationen". Die Unterschiede dieser verschiedenen Aufmerksamkeitslandschaften vergrößern sich also.

Neue Aufmerksamkeitslandschaften

In dem Maß wie die Welt schrumpft geht das Interesse an relevanten politischen und ökonomischen Zusammenhängen zurück - die klassische Auslandsberichterstattung ebenso wie die über die Legislative oder erklärende Wirtschaftspolitik.
Gewinner sind Human Interest, Exekutive und distanzlose Unternehmens-Berichte. Neuer Player in dieser verengten Aufmerksamkeitslandschaft: der Sport.

Imhof, was die Wahrnehmunsgsverschiebung in der sozialen Ordnung betrifft: "Expansion der personellen Skandalisierung und Reflexionsverlust für strukturelle Zusammenhänge".

Das kann ich gar nicht genug unterstreichen - und das gilt für jeden Bereich, auch den Sport - Stichwort Stammtischjournalismus.

Und da liegt auch das Problem des "eigenlogischen Mediensystems".

Qualitätsverlust der Medien = Systemrisiko der Demokratie

sagt Imhof ganz unpathetisch; und fordert eine neue Medienpolitik und eine neue Qualitätsanalytik.

Das soll mittels einer "gattungsunabhängigen Förderung der Qualitätsjournalismus" funktionieren, nicht jedoch für Gratis-Medien gelten. Interessanter Ansatz.
Die Kriterien will Imhof über klassische Qualitäts-Indikatoren

1. Universalitätsprinzip
2. Objektivitätsprinzip
3. Relevanzprinzip

Da wird‘s dann ein wenig trocken und auch welt-, oder vielleicht nur österreich-fremd.

ad 1.: gemeint ist dass "kein Thema dem Zugriff der Vernunft entzogen sein darf". Die Ausrede, dass bestimmte Themen öffentlich nur auf derr emotionalen Skala rausf/runtergeorgelt werden könnten, gilt nicht, sagt Imhof.

ad 2.: Quellentransparenz und Faktengerechtigkeit sind Grundlage für präzise Sachverhaltsdarstellungen, sorgfältige Begründungen und Einbeziehung aller Argumente jenseits von Eigeninteressen.
Eine etwas steife, sehr schweizerische Version.

ad 3.: das "Gesetzmässige und damit Allgemeine" sind bevorzugt zu behandeln -> deshalb ist die klassische journalistische Ressorteinteilung mit der Bevorzugung von Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft zu rechtfertigen.
Sehr klassischer Ansatz.

Wie man über diese drei ein wenig papierig raschelnden Indikatoren eine "systemische Qualitätsbeobachtung" einziehen soll - wo es in Österreich weder einheitliche Mediengesetze noch ein gemeinsames Bekenntnis aller Medien-Verbände auf bestimmte Basis-Begrifflichkeiten gibt - wird nicht behandelt.

Apropos Basis-Begrifflichkeiten: die Funktionen der freien Öffentlichkeit in der Demokratie, die Forumsfunktion, die Kontroll- und Legitimierungsfunktion und die Integrationsfunktion hat Imhof allem vorangestellt.
Auch wenn vor allem Dritteres in Österreich nicht so recht klappt. Medien schließen in erster Linie aus, anstatt zu integrieren. Und damit meine ich nicht Special Interest-Angebote, sondern den bewusst mit der gesellschaftlichen Spaltung in den "anständigen kleinen Mann" und eine in gutmenschelnde Scheinelite spielenden Mainstream-Boulevard.

Imhof hat noch eine Forderung:

Medienkompetenz im Bildungssystem verankern

"Weniger politisch korrektes Surfen im Internet, dafür synchron und diachron vergleichende Darstellung der Leistungen der Informationsmedien. Stärkung der Medienmarken und Nutzung ihrer Distinktionskraft."

Hat das jemand schon so offensiv formuliert?
Andererseits: wird sowas jemals in die neverendingstory der heimischen Schulreform einfließen können? Schaut schlecht aus.

Imhofs letzte Forderung betrifft eine
Neue Verantwortung der öffentlich-rechtlichen Medien.
Mit einer Stärkung dessen, was zurückgeht, aber dringend nötig ist (Auslands/Europa/Wirtschaftsberichterstattung); Versachlichung der politischen Auseinandersetzung - aktuell läuft gerade der "Report" in dem Waldner/Schieder/Merlicek das in der Praxis versuchen - ich verlink das, sobald die Sendung in der TVthek steht.

Ob Imhof mit dem Begriff "Online-Ausbau" sowas wie die TV/Radiotheken meint - oder doch einen Ausbau der partizipartiven Fähigkeiten der neuen Medien?
Im Gegensatz zum TV-Programmdirektor, der knapp vor seinem Funktionsende noch einmal deutlich macht, dass er das alles für einen Haufen Scheiße hält, ist der Schweizer Professor aller vorliegender Klageschrift zum Trotz ein zukunftsorientierter Nachdenker.