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Michael Fiedler

Politik und Spiele, Kultur und Gegenöffentlichkeit.

20. 6. 2011 - 17:54

Der "Flüchtlingstsunami"

Weltflüchtlingstag. Aber bitte nicht bei uns. Warum wir Italien sind. Und besser Tunesien wären.

20. Juni ist Weltflüchtlingstag

Im April 2011 streiten sich europäische Staatsmänner und -frauen wie Kinder in der Sandkiste. Silvio Berlusconi, mit einigen Tausend nicht ganz überrraschend aus Nordafrika ankommenden Flüchtlingen überfordert, stellt ebenjenen Aufenthaltsgenehmigungen aus, mit denen sie sich in der EU frei bewegen können. Hauptsache, sie reisen aus. Vor allem Frankreich und Deutschland, aber auch Österreich reagieren beleidigt und setzen teilweise Schengen außer Kraft. Hauptsache, sie reisen nicht ein. Denn wenn es um den menschlichen Tsunami aus Tunesien und Lybien geht, hören sich Solidargemeinschaft und Menschenrechte recht schnell auf.

Flüchtlinge im Hafen von Lampedusa

EPA

Flüchtlinge im Hafen von Lampedusa

Dabei ist eben jene Springflut aus Verzweifelten nicht nur eine der menschenverachtendsten Metaphern überhaupt, sondern auch gar keine gewesen. Etwa 44.000 Menschen sind laut italienischem Flüchtlingsrat zwischen Jänner und vergangener Woche aus Nordafrika nach Italien gekommen. Davon sind 20.000 Tunesier, die als Wirtschaftsflüchtlinge keine Chance auf Asyl haben. Bleiben 24.000 Asylwerber, die großteils aus Lybien kommen, wenn auch nicht unbedingt dort geboren sind. Das ist eine doch überschaubare Menge, die der 60-Millionen-Staat Italien und erst recht die 500-Millionen-Gemeinschaft Europäische Union ganz gut verkraften kann.

Alle Ausreden und alle Angstmacherei vor den "Fremden" verpufft wirkungslos, wenn man übers Meer nach Süden schaut. Christopher Hein vom italienischen Flüchtlingsrat: "Aus Lybien sind 340.000 Menschen nach Tunesien geflüchtet und 120.000 nach Ägypten. Was für Länder, die sich in der schwierigen Situation der Demokratisierung befinden, kein leichter Brocken ist."

Flüchtlinge auf Lampedusa

EPA/Ciro Fusco

Dann herzugehen und ernsthaft zu behaupten, dass die Europäische Union nicht im Stande ist, jenem kleinen Anteil, den die Verzweiflung in Boote und übers Meer getrieben hat, wenigstens für kurze Zeit eine neue Heimat zu geben, ist purer Zynismus. Laut UNHCR leben achzig Prozent aller Flüchtlinge weltweit in Entwicklungsländern. Und in Europa gilt immer noch der schon bei seiner Einführung 2003 als ungerecht kritisierte Dublin-II-Vertrag.

Asylanwalt Georg Bürstmayr: "Das System fußt auf der Idee, dass man über diese Menschen ein Verfahren führt, wo sie hingebracht werden, so als wären sie Packerln." Anstatt dass man einheitliche Standards für Asylverfahren durchsetzt und alle Staaten gemessen an der Bevölkerungszahl gleich viele Flüchtlinge aufnehmen, schlagen sich Flüchtlinge illegal nach Norden und Westen durch, und Gerichte mit den miesen Asylpraxen von klassischen Ersteinreiseländern wie Griechenland oder Italien herum. Dort hat die Regierung das an sich bereit stehende Flüchtlingslager auf Lampedusa nach Ausbruch der tunesischen Revolution wochenlang geschlossen gehalten und anschließend hoffnungslos überfüllt.